Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Ein kritischer Journalist aus Berlin.
Gerhard Löwenthal zum 100. Geburtstag


Von Stefan Winckler


Wer war dieser Journalist, der die Fernseh-Nation Woche für Woche in zwei feindliche Lager spaltete, wie es zumindest der „Spiegel“ vor 50 Jahren behauptete?
Leben und Werk
Gerhard Löwenthal wurde 1922 in Berlin am Kurfürstendamm geboren. Der Vater, ein Herrenkonfektionär, war Jude. Die Mutter konvertierte mit der Heirat vom Protestantismus zum jüdischen Glauben. Seine Lehrer waren im wesentlichen bürgerlich-konservativ. Die weitaus meisten behandelten ihn auch nach 1933 korrekt und gerecht. Ähnliche Erfahrungen machte der Schüler Marcel Reich-Ranicki in Berlin-Schöneberg – die modernen Viertel der Metropole mit einem recht hohen jüdischen Bevölkerungsanteil unterschieden sich von den ländlichen oder kleinstädtischen Gegenden. Allerdings griffen HJ-Schläger Löwenthal mehrfach an, weswegen er im Sportclub „Makkabi“ Boxunterricht nahm und sich fortan wirkungsvoll verteidigte.
Am 10. November 1938, im Anschluss an die Pogromnacht, wurden Löwenthal und sein Vater ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Dank der Fürsprache von „Onkel Max“, einem hochrangigen Angestellten der Heinkel-Flugzeugwerke, kamen beide wieder frei. Im Hintergrund hatte sich seine Mutter eingesetzt. Wie alle jüdischen Schüler musste Gerhard Löwenthal das Gymnasium verlassen. Der Kriegsausbruch verhinderte, dass er nach Großbritannien emigrierte, wie sein jüngerer Bruder Herbert. In den folgenden Jahren lernte er das Optikerhandwerk bei einem wohlgesonnenen Lehrmeister. Einer Deportation entging er, da der Betrieb als „kriegswichtig“ galt und die Mutter erneut „alle Hebel in Bewegung setzte“. Löwenthal befand sich wochenlang in Gestapo-Haft, da er Juden unterstützt, einige sogar versteckt hatte. Als Träger des Gelben Sterns war er ohnehin auf das Höchste gefährdet. Fast alle jüdischen Verwandten wurden ermordet.
Löwenthal blieb nach dem Kriege in Berlin, der Eltern wegen, in Erinnerung an Helfer in der schlimmsten Zeit, und weil er auf eine bessere, demokratische Zukunft vertraute – wenn sich die Bürger dafür einsetzen. Ab 1946 studierte er Medizin an der Universität Unter den Linden, wo ihm der zunehmende kommunistische Einfluss Sorgen bereitete. Gleichzeitig arbeitete er als Reporter für den neu gegründeten Rundfunk im amerikanischen Sektor. Als er sich für das Studium oder den journalistischen Beruf entscheiden musste, wählte er die Rundfunktätigkeit. Löwenthal berichtete über den Verfall der Wissenschaftsfreiheit in der Ostzone, half den Studenten dort konspirativ mit Büchern aus, moderierte die RIAS-Funk-Universität (Vorlesungen und Interviews renommierter Wissenschaftler) und unterstützte die Gründung der Freien Universität – all dies bereits 1948, mit 25 Jahren. 1958 veröffentlichte er mit dem Chemiker Josef Hausen das Sachbuch „Wir werden durch Atome leben“, ein ausführliches Plädoyer für die Kernkraft. Seine entschiedene Einstellung zugunsten der europäischen Integration vertrat er als erster ZDF-Korrespondent in Brüssel von 1963 bis 1968.
Als der ZDF-Fernsehrat ein politisches Magazin forderte, war Löwenthal einer der Kandidaten, den auch die SPD-Vertreter favorisierten. Das Magazin wurde ab Januar 1969 wöchentlich, ab 1973 alle 14 Tage ausgestrahlt.  Die eher „progressiven“ Zuschauer schalteten Magazine wie „Panorama“ und „Monitor“ an, die Konservativen bevorzugten das „ZDF-Magazin“.
Eine journalistische Leistung Löwenthals war, dass er permanent die prominentesten Politiker und Wissenschaftler vor sein Mikrofon holte: Ernst Reuter bei seiner Rückkehr aus dem Exil, Konrad Adenauer unmittelbar nach der ersten Kanzlerwahl, Richard Nixon und Henry Kissinger im ZDF-Studio, Kanzler und Kandidaten – eine imponierende, lange Liste.  Er ließ sich von Beleidigungen durch Antisemiten, Linksextremisten und  arabischen Israelfeinden nicht von seinem Weg abbringen.
Das ZDF in Person von Intendant Dieter Stolte und Chefredakteur Klaus Bresser nutzte Löwenthals Pensionsberechtigung 1987, um das Magazin nach insgesamt 583 Folgen zu beenden. Es folgten noch zehn Sendungen unter Leitung seines langjährigen Stellvertreters und Vertrauten Fritz Schenk. Ein Angebot, als freier Mitarbeiter seine regen journalistischen Kontakte zu nutzen, blieb aus: Der bekenntnisfreudige Konservative hatte wenige politische Freunde unter den Kollegen, auch im ZDF. Ein Dank des Arbeitgebers: Fehlanzeige, trotz seiner Zugehörigkeit zum ZDF seit der „ersten Stunde“, seit 25 Jahren.
Löwenthals Texte waren im „Deutschland-Magazin“, im „Ostpreußenblatt“ und „Criticon“ zu lesen. Zu Themen wie der Deutschen Einheit oder der erlittenen NS-Verfolgung war er hin und wieder TV-Gast (Suchbegriffe: Gerhard Löwenthal, Fernsehen), so z.B. hier:
www.youtube.com/watch?v=k1WmbOHzgG0
www.youtube.com/watch?v=IlqneyFjOdI
Werte, Einstellungen und Selbstverständnis
Am Anfang von Gerhard Löwenthals politischer Entwicklung stand die doppelte Erfahrung des Totalitarismus:
Er hatte den Nationalsozialismus mit seinen Demütigungen, der Diskriminierung als jüdischer Mensch und v.a. der über Jahre anhaltenden Gefahr, deportiert oder ermordet zu werden, überstanden. Um 1946/47 sah er das Wetterleuchten eines neuen Totalitarismus, diesmal unter den roten Fahnen der Stalinisten, deren Anmaßung allmählich immer mehr anwuchs, bis sich die Spaltung Berlins 1948 nicht mehr vermeiden ließ.
Daher fühlte sich Löwenthal berufen, gezielt für den demokratischen Verfassungsstaat einzutreten, diesen mit den Mitteln eines Journalisten gegen seine Feinde zu verteidigen und für ihn zu werben. Die unerwartet gute politische und wirtschaftlich-soziale Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erleichterte ihm diese Aufgabe.
In Bezug auf die Ost- und Deutschlandpolitik war für Löwenthal das grundgesetzlich fixierte Ziel der Deutschen Einheit ausschlaggebend. Damit befand er sich im Einklang mit den Leitlinien des ZDF-Staatsvertrags: „Die Sendungen sollen vor allem der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit dienen und der Verständigung unter den Völkern. Sie müssen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen und eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen“. Mit den ZDF-Intendanten Karl Holzamer und Karl-Günther von Hase wusste sich Löwenthal in Übereinstimmung.
Während Journalisten von „Spiegel“, „Stern“, „Zeit“ und der meisten ARD-Anstalten Egon Bahrs ostpolitisches Konzept des „Wandels durch Annäherung“ favorisierten, stand Löwenthal zusammen mit seinen Kollegen vom Springer-Verlag auf der anderen, der skeptischen Seite, was ihn nah an die CDU und noch mehr an die CSU heranführte.  So, wie er um 1960 mit Willy Brandt befreundet war, stand er ab den frühen 1970er Jahren Franz Josef Strauß nahe, ohne einer Partei anzugehören. Er hielt Reden und gründete nach amerikanischem Beispiel Bürgerinitiativen. Im „ZDF-Magazin“ informierte er u.a. über Linksradikalismus an Schulen und Universitäten, politische Skandale, Infiltration durch die DDR, die innerdeutsche Grenze und vieles mehr.
Seit dem 1968er Umbruch wandelte sich der Begriff des „kritischen Journalisten“. War damit bislang ein besonders quellenkritischer Berichterstatter gemeint („Stimmt die Nachricht oder ist es eine Falschmeldung“?), verstand die Öffentlichkeit darunter mehr und mehr einen auf politisch-gesellschaftliche Veränderungen bedachten  Medienpraktiker, der sich für linke Werte einsetzt und dabei bewusst die Rolle eines journalistischen „Erziehers“ oder „Missionars“ annimmt. Welcher dieser beiden Varianten Löwenthal angehörte, gerade auch mit Blick auf die vielen Gerüchte in Berlin während des Kalten Krieges, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Auch Löwenthal sah sich, wie er dem Verfasser einmal sagte, als „Missionar“: „für die Freiheit“, d.h. für die bewährte politische Ordnung der Bundesrepublik. Er beanspruchte für sich die Rolle des journalistischen „Anwalts“, der sich für eine Gruppe entschieden einsetzte: für die Deutschen in der DDR, denen die Selbstbestimmung vorenthalten war, v.a. für politischen Häftlinge. Als sich Ausreisewillige an ihn persönlich wandten, benannte er ihre Schicksale namentlich in der Fernsehsendung („Ein SOS im Äther darf man nicht verklingen lassen“), wenn sie dies ausdrücklich wünschten: „Hilferufe von drüben“. Auch darüber hinaus waren Menschenrechtsverletzungen im sog. „real existierenden Sozialismus“ ein Themenschwerpunkt: Die Aussagen von Bürgerrechtlern und seltene Filmdokumente waren geradezu ein Markenzeichen. Spätestens mit der Wiedervereinigung zeigte sich, dass Löwenthal und die Magazin-Redaktion den „real existierenden Sozialismus“ weitgehend zutreffend dargestellt hatten.
Den Ost-West-Gegensatz sah Löwenthal im weltweiten Maßstab. Dementsprechend suchte er die Brennpunkte wie das rohstoffreiche südliche Afrika mit seinen postkolonialen Stellvertreterkriegen auf und erörterte diese wiederholt in der Sendereihe. Die Vereinigten Staaten waren für Löwenthal ein zweites Vaterland, zumal nach der Erfahrung der Luftbrücke; ähnlich wie Axel Springer bewunderte er Ronald Reagan. Löwenthal stand wie Matthias Walden,  Elisabeth Noelle-Neumann und Johannes Gross für einen freiheitlichen, auf die Bewahrung von Rechtsstaat und Marktwirtschaft ausgerichteten, eher „angelsächsischen“ Konservatismus.
Die Einstellung zur jüdischen Religion und zu Israel
Löwenthal bekannte sich zu einem starken Glauben an den „Gott des Alten Testaments“, denn „sonst hätte man das, was man in seinem Leben mitgemacht hat, sicher nicht überstehen können“. Er fühlte sich nicht dazu verpflichtet, alle Gebote einzuhalten, aber er sah eine „Kraftquelle“ als notwendig an: „Und die liegt teilweise ganz sicher bei mir in der Verankerung der jüdischen Religion, die ja in der Geschichte des jüdischen Volkes einem ungeheuer viel gibt, wenn man sie immer wieder studiert. Wenn Sie an den Stamm der Makkabäer denken, die damals diejenigen waren, die den Judenstaat wehrhaft verteidigt haben, dann ist das so etwas, was einem Kraft gibt“. Die Bibel habe ihn nachhaltig beeinflusst, und auch die Bar-Mizwa war selbstverständlich. Löwenthal besuchte bei seinen Berlin-Aufenthalten stets die Synagoge und gehört der Jüdischen Gemeinde an.
Im Jahre 1969 betrat Löwenthal erstmals israelischen Boden. Dort führte er ein Interview mit dem ehemaligen Botschafter in Bonn, Asher Ben-Nathan, und besuchte die Klagemauer zum Gebet. Wie er sagte,  identifizierte er sich mit Israel, ohne ein „fanatischer Zionist“ zu sein. Vielmehr sah er sich als „deutschen  Patrioten jüdischen Glaubens“, der „starken Anteil“ nimmt.  Er verstand das Streben Israels, die Grenzen so zu ziehen, dass seine Sicherheit aus eigener Kraft gewährleistet ist, als „völlig legitim“. In einem Kommentar von 1979 rügte Löwenthal, Deutschland vernachlässige die Beziehungen zu Israel, und betone zu einseitig die araberfreundlichen Positionen der Europäischen Gemeinschaft. Die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Ägypten verdienten Unterstützung, nicht aber demonstrative Treffen europäischer Politiker mit PLO-Vertretern wie Arafat. In diesem Sinne rügte er Bundeskanzler Helmut Schmidt, der die PLO verharmlose.
Löwenthal widmete nur 22 Beiträge im „ZDF-Magazin“ dem Thema Israel. Seine pro-israelische Einstellung kam darin jedoch immer zum Ausdruck: Er rechtfertigte die Zerstörung des Kernreaktors Osirak vor Inbetriebnahme (1981), denn dadurch sei der Bau von irakischen Atombomben verhindert worden. Ebenso begrüßte er die israelische Militäroperation im Libanon (1982) mit Verweis auf die PLO-Verbrechen im Libanon und den Raketenbeschuss Galiläas. Damit stand er im Gegensatz zu den weitaus meisten deutschen Journalisten. Im Gegensatz zu vielen Kollegen sah er den Nahost-Konflikt zusätzlich durch die Brille des Ost-West-Konflikts: In den späten 1970er Jahren bezeichnete er die PLO als eine „von Moskau dirigierte, ausgerüstete und finanzierte Terrororganisation“.
Aus der Shoah leitete Löwenthal keine Kollektivschuld der Deutschen, sondern eine „fortdauernde Verantwortung“ Deutschland für Israel ab, die sich die deutschen Politiker im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt gut einprägen sollten.
Eine Auswanderung zog er nicht in Erwägung, doch hätte er ein Leben in Israel einer linken oder rechten Diktatur vorgezogen, wie er 1978 resümierte.
Tod
Gerhard Löwenthal verstarb zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag am 6. Dezember 2002 nach monatelanger Krankheit. Er ist auf dem Jüdischen Friedhof Heerstr. in Berlin bestattet. Seine Witwe Ingeborg, geb. Lemmer, wirkte 20 Jahre lang als Betriebsärztin auf dem Frankfurter Flughafen und starb 94-jährig am 5. Oktober 2019.
Fazit
Sicher, Löwenthal polarisierte. Er hatte seine „Fans“ und erbitterte Gegner. Aber dies galt auch für andere politische Journalisten, die „Missstände“ kritisierten und sich eines hohen Bekanntheitsgrades erfreuten, wie Franz Alt und Claus Hinrich Cassdorf. Löwenthal war als Holocaust-Überlebender besonders authentisch in seiner Einstellung für die Menschenrechte und gegen totalitäre Systeme. Auffallend war seine Haltung pro Israel: in dieser Form eher eine Seltenheit.
Es mag erstaunen, dass dieser bemerkenswerte Lebenslauf oft gering geschätzt wurde. Als der Verfasser seine Magisterarbeit schrieb, meinte ein Doktorand der Politikwissenschaft (heute Professor), über den Soziologen Leo Löwenthal oder den Politologen Richard Löwenthal könne man durchaus eine wissenschaftliche Abschlussarbeit verfassen, aber „doch nicht über den ZDF-Löwenthal“, der dies einfach nicht wert sei. Als ob eine allgemeinverständliche, möglichst fremdwortfreie  Ausdrucksweise des Moderators intellektuelle Fähigkeiten ausschlösse!
Ähnliche Zweifel am Untersuchungsobjekt hörte der Verfasser in der Disputatio zur Promotion im Fach Geschichte.
Literatur
Winckler, Stefan: Gerhard Löwenthal. Ein Beitrag zur politischen Publizistik der Bundesrepublik Deutschland (Biographische Studien zum 20. Jahrhundert, Bd. 1). Berlin: BeBra Wissenschaft, 2011. Zugleich Dissertation.

Dieser Artikel wurde gleichzeitig in der Dezember-Ausgabe der Jüdischen Rundschau veröffentlicht: https://juedischerundschau.de/article.2022-12.100-geburtstag-gerhard-loewenthals-ein-jude-und-kritischer-journalist-aus-berlin.html

© Stefan Winckler

 

E-Mail
Anruf
Infos