Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

 Leibniz auf der Leinwand: Was kann ein Bild abbilden, und wo liegen seine Grenzen?


Ist in unserer Zeit ein Kinofilm vorstellbar, der sich der Gedankenwelt eines der hervorragendsten europäischen Philosophen als Kammerspiel mit viel Dialog anzunähern versucht? Eigentlich nicht!


Dennoch sah dieses Drama im September 2025 das Licht der Leinwand. Titel: Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes.  Regisseur Edgar Reitz gelang es unter Mitwirkung des Schriftstellers Gert Heidenreich als Co-Drehbuchautor, die Geist-sprühenden, authentisch wirkenden, aber fiktiven Gespräche des Universalgenies (Edgar Selge) mit den Malern Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz) und Pierre-Albert Delalandre (Lars Eidinger) unterhaltsam zu präsentieren. Dabei werden maßgebliche Themen des Mathematikers, Juristen, Historikers, Physikers und politischen Beraters wie die „beste aller möglichen Welten“, Theodizee und das binäre Zahlensystem berührt. Seine Rechenmaschine steht im Raum. Zum Schluss beantwortet die Malerin die Frage: Ist nun das Porträt eine bloße Momentaufnahme, wie Delalandre anfangs nahelegt – oder mehr? „Die Zeit, die wir verbringen, während das Bild entsteht; all diese Zeit, die Mal-Zeit, ist im Bild enthalten“. Und ebenso ist der Film keine gewöhnliche Unterhaltung, sondern ein Einstieg in die Welt des großen Denkers aus Hannover, der mehrfach angeschaut und genossen werden kann.

Auch Barbara Sukowa als Kurfürstin Sophia von Hannover (die Auftraggeberin des Porträts) und Antonia Bill als deren Tochter Königin Sophie Charlotte von Preußen sind zu sehen. Unterstützt wurde Reitz, bekannt durch die schon legendäre Reihe „Heimat“, von dem Co-Regisseur Anatol Schuster, seiner Ehefrau Salome Kammer als Assistentin und dem Sohn Christian Reitz als Co-Produzent.

Wer oder was gab den Anstoß zu diesem Film?

Die Stadt Hannover plante zum 300. Todestag von Leibniz (2016) eine Festveranstaltung. Sie fragte an, ob Reitz, wohl der überragende filmische Chronist deutscher Geschichte, etwas mit seiner Kompetenz dazu beitragen könne. Reitz: „Ich habe den Entwurf einer Ausstellung in zehn verschiedenen Sälen [von Schloss Herrenhausen] geschrieben, in jedem sollte ein Kurzfilm einen anderen Aspekt des Universalgelehrten beleuchten. Zwei Jahre habe ich damit verbracht, aber es war letztlich nicht finanzierbar“.
Dann trat er an den vielseitigen Schriftsteller Gert Heidenreich heran, ob dieser mit ihm nicht wieder ein Drehbuch verfassen wolle – sie hatten mit großem künstlerischen Erfolg zusammen das Skript zu „Die andere Heimat“ verfasst, ein Filmdrama über Ausharren und Auswandern um 1845 im Hunsrück.

Drehbuchschreiben und Produktion

Der Film, der nach dem ersten Drehbuchentwurf entstehen sollte, hätte 25 Millionen Euro gekostet. Viel zu viel. Der zweite Entwurf hätte etwa die Hälfte davon verschlungen. Immer noch zu teuer. So kamen Reitz und Heidenreich überein, den preiswerteren intimen Rahmen eines Künstlerateliers zu wählen. Dort zerstreiten sich der Maler und der Denker. Die Malerin, die nun das bestellte Porträt anfertigen soll, interessiert sich weniger für die reine, oberflächliche Abbildung von Leibniz, sondern für die Wahrheit, die hinter dem Bild steckt. Er geht auf sie ein („Wollen wir ein wenig miteinander denken?“) und sie kommen auf verschiedenste Themen zu sprechen.
Heidenreich verbrachte neun Jahre damit, Leibniz „kennenzulernen“ und sich in ihn zu vertiefen. Dazu las er 80 Bücher und wissenschaftliche Arbeiten über das Universalgenie. „Der Film verlangt Konzentration. Es gibt keinen Leerlauf in den Dialogen“, so Heidenreich zu Recht. Weit von einer gewöhnlichen Komödie entfernt, hat er doch seine leise Heiterkeit und auf jeden Fall einen hohen Unterhaltungswert, jedenfalls für ein bildungsbürgerliches Publikum. Er sollte aber „kein bebilderter Philosophieunterricht“ sein, wie Heidenreich resümierte (Merkur, a.a.O.).
Das 104-Minuten-Werk entstand vom 11. September bis 28. Oktober 2024 in einem Studio in München. Die wenigen Außenaufnahmen stammen aus dem Park von Schloss Schleißheim. Das Filmbuch (siehe unten) enthält die Nacherzählung des Films, Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Regisseur Edgar Reitz und Leibniz-Darsteller Edgar Selge, Interviews und einen Beitrag von Kameramann Matthias Grunsky zur Licht-Gestaltung, sowie einen Aufsatz Gert Heidenreichs über Leibniz und seine Erinnerung an die umfangreichen historischen Studien bei der Drehbuchentwicklung.
ARTE und der BR haben sich an der Filmproduktion beteiligt und werden „Leibniz“ ausstrahlen. Die DVD wird voraussichtlich ab dem 30. Januar 2026 erhältlich sein.

Ausblick

Ach, übrigens: Reitz vollendete die Dreharbeiten mit seinem Team drei Tage vor dem 92. Geburtstag. Auch Heidenreich ist mit 81 Jahren in vorgerücktem Alter. Aber wie sagte Reitz doch treffend: „Als Künstler wird man kein Rentner“. Solange man arbeiten könne, werde man es tun. Und er nennt, wohl nicht ohne Augenzwinkern, den portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira. Dieser starb als 106-Jähriger während einer seiner Produktionen.



Quellen und Literatur

Tobias Gmach: Drehbuchautor Heidenreich: Wie er das Universalgenie Leibniz ein Jahrzehnt lang studierte. In: Merkur, 10.9.2025. Online:

https://www.merkur.de/lokales/starnberg/seefeld-ort29435/drehbuchautor-heidenreich-wie-er-das-universalgenie-leibniz-ein-jahrzehnt-lang-studierte-
https://heimat-fanpage.de/edgar-reitz/leibniz/
93925507.html
https://www.imdb.com/de/title/tt34290805/
Pamela Jahn: Regisseur Edgar Reitz über LEIBNIZ- CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES: „Es gibt keine Trennung innerhalb der Schöpfung. In: Cineville, https://cineville.de/de-DE/magazin/interview-leibniz
Edgar Reitz: Leibniz - Chronik eines verschollenen Bildes. Das Filmbuch. Marburg 2025
Der langjährige Briefwechsel von Leibniz mit der Kurfürstin Sophie von Hannover ist hier zusammengestellt:
Correspondenz von Leibniz mit der Prinzessin Sophie, 1680-1714, hrsg. von Onno Klopp, 3 Bde. Hannover 1873, online:
https://www.google.de/books/edition/Correspondenz_von_Leibniz_mit_der_Prinze/AR5XAAAAYAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=leibniz+sophie+briefe&printsec=frontcover


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