Wir haben es mit einem Gegner zu tun, der Wahrheit und Treue nicht kennt. Was sie Gott nennen, ist nicht unser Gott. Etwas Teuflisches.
Nuntius Eugenio Pacelli über Hitler, 1929
Am 10. Februar 2019 jährt sich der Todestag des Heiligen Vaters Pius XI. zum 80. Male. Zugleich wollen wir uns an dieser Stelle mit dem Buch auseinandersetzen, dass der Historiker David I. Kertzer 2014 über Pius im Zusammenhang mit dem italienischen Faschismus verfasst hat (dt.: Der erste Stellvertreter, 2016). M.E. ist dieses umfangreiche und mit 25.000 ausgewerteten Quellen beeindruckende Werk zu offenkundig von der Absicht durchdrungen, den Papst als wenig kritischen Unterstützer Benito Mussolinis („Er ermöglichte den italienischen Faschismus“) sowie als Unsympathen zu kennzeichnen. Pius war jedoch m.E. geistig viel zu eigenständig, um sich auf ein Kumpanei mit Mussolini einzulassen, auch wenn er in den ersten Jahren dessen Kirchenpolitik begrüßte. Er sollte sich jedoch in Mussolini täuschen.
Zeitenwende 1918ff.
Gründe, sich Pius XI. biografisch anzunäheren, gibt es genug. Sein Pontifikat umfasste die Jahre, in denen für die Katholiken Mitteleuropas spürbare Veränderungen auftraten: katholische Staaten wie das Kaisertum Österreich und das Königreich Ungarn wurden Republiken. Ihre Beziehungen zum Papsttum waren neu zu ordnen. Neue Staaten wie die Tschechoslowakei entstanden.
Der Marxismus-Leninismus versuchte ab 1917 eine völlig religionslose Gesellschaft zu schaffen – zunächst in Russland, längerfristig weltweit. Der „neue Mensch“ der Bolschewiki, ein Massenmensch, war mit dem christlichen Menschenbild und dem freien Willen des Einzelmenschen nicht zu vereinbaren.
In Italien formierte sich eine nationalistische, Gewalt anwendende Bewegung namens Faschismus. Ihr „Duce“ Mussolini war zuvor ein antiklerikaler Sozialist.
Wer war dieser Papst, der mit solchen Herausforderungen konfrontiert wurde?
Geboren am Pfingstsonntag, dem 31.5.1857 in Desio bei Mailand, studierte Ratti (z.dt.: „Ratten“) Theologie, Jura und Philosophie. In allen drei Fächern promovierte er. Ab 1882 wirkte er als Professor in Mailand, dann als Präfekt der Ambrosianischen Bibliothek ebendort und als Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Sein Hobby war das Bergsteigen.
Ratti erlebte seine Priesterweihe unter dem Pontifikat von Leo XIII., die Bischofsweihe in der Regierungszeit von Pius X. Jene Zeit war überschattet vom Konflikt zwischen dem italienischen Nationalstaat und dem Papsttum. Der Kirchenstaat war in Gesamt-Italien aufgegangen. Die „Römische Frage“ war ungelöst, der Vatikan verbot den Italienern die Teilnahme an den Wahlen zum Staatsparlament.
Die politische Dimension: Italien
Mussolini stand ab 1922 einer Mehrparteienregierung vor, die keineswegs diktatorisch regierte, bis er 1925 seine Alleinherrschaft errichtete. Er suchte, im Gegensatz zu seiner bisherigen Einstellung, eine Annäherung an die Kirche, indem er Religionsunterricht an den staatlichen Schulen einführte und die kirchliche Trauung anerkannte. Mussolini wusste wohl, dass er sich einen Zweifrontenkampf gegen die radikale Linke und die alten Eliten nicht leisten konnte. So entschied er sich für die Bekämpfung der „Roten“ und den Frieden mit den „Schwarzen“, zumal er den König nicht absetzen konnte. Als Pius einen vertraglich geregelten Frieden mit Italien wünschte, kam ihm Mussolini entgegen – und so schlossen sie 1929 den Lateranvertrag: Der Vatikan wurde zum souveränen Staat mit einer Fläche von 44 Hektar, zugleich erkannte der Heilige Stuhl Rom als Hauptstadt/Regierungssitz Italiens an. Beide Seiten schlossen ein Konkordat mit Bestimmungen zu Zivilrecht und Kirchenpolitik. Italien zahlte dem Vatikan eine Entschädigung für das 1870 verlorene Eigentum.
Als Mussolini erklärte, Italien sei „katholisch, vor allem aber faschistisch“, verärgerte er den Papst heftig – zumal diese „Duce“-Rede auch gedruckt wurde. Dementsprechend bekämpfte der faschistische Staat schon 1931 die vom Vatikan und den Bischöfen angeleitete Laienbewegung „Katholische Aktion“, weil sie mit den faschistischen Jugendorganisationen konkurrierte. Pius reagierte darauf mit seiner Enzyklika Non abbiamo bisogno. Der Streit konnte beigelegt werden, auch wenn Pius in den Folgejahren Mussolini immer skeptischer betrachtete. So lehnte der Papst den Abbessinien-Krieg Italiens 1935/36 ab (wenn auch nicht öffentlich). Ihm war die Selbstüberhöhung des „Duce“ durch einen allgegenwärtigen Personenkult zuwider, mehr noch dessen Annäherung an Hitler. Pius erklärte gegenüber einem Vertrauten, Mussolini habe schon vor seinem Deutschland-Besuch „den Kopf verloren“. Zum endgültigen Bruch kam es, als Mussolini eine Rasse- und Ehegesetzgebung einführte, die der katholischen Lehre und explizit dem Lateranvertrag eindeutig widersprach (bezüglich Ehen von Katholiken und Juden). Der Papst war jedoch erkrankt und fand nicht mehr die Kraft zu seiner geplanten antirassistischen Enzyklika. Mehrfach äußerte er kurz vor seinem Tode, „Was für ein Flegel und Verräter war Mussolini zu mir!“ (vgl. Kertzer, S. 373). Bekannter ist sein Satz „Im geistlichen Sinne sind wir alle Semiten“, ausgesprochen vor belgischen Pilgern 1938.
Die politische Dimension: Deutschland
Als der Wiener Erzbischof Theodor Kardinal Innitzer den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland bejubelte, bestellte ihn Pius nach Rom und „wusch ihm den Kopf“: ob denn der Kardinal noch immer durch eine rosarote Brille schaue?!
Denn im Gegensatz zu Mussolini war Hitler für Pius stets ein Gegner. Das Reichskonkordat vom 20.7.1933 sollte die Kirche vor allem Benachteiligungen und Verfolgungen bewahren, während gleichzeitig der politische Katholizismus und das vielgestaltige katholische Vereinswesen in Deutschland zu enden hatten. Die zahlreichen Verstöße der Nationalsozialisten gegen das Konkordat beantwortete der Vatikan mit insgesamt 34 Protestnoten. Schließlich veröffentlichte Pius XI. seine Enzyklika „Mit brennender Sorge“ in deutscher Sprache unter Mitarbeit von Michael Kardinal Faulhaber. Sie wurde heimlich zu den einzelnen Pfarrern im Reich gebracht und am 14.3.1937 von den Kanzeln verlesen. Das NS-Regime verschärfte daraufhin den Kirchenkampf.
Weitere Schwerpunkte des Pontifikats
Auch über Italien und Deutschland hinaus gehörte der Protest des Papstes gegen Verfolgung und Benachteiligung von Katholiken zu einem Schwerpunkt seiner Lehrschreiben: Er wandte sich gegen den Kirchenkampf in Mexiko (Iniquis afflictisque, 1932; Acerba animi, 1932 und Nos es muy conocida, 1937) und Spanien (Dilectissima nobis, 1933) sowie gegen den atheistischen Marxismus-Leninismus in der UdSSR (Divini redemptoris, 1937).
Pius nahm die Todestage einiger Heilger zum Anlass, in seinen Enzykliken Franz von Sales (Rerum omnium perturnatorum, 1922), Thomas von Aquin (Studiorum ducem, 1923), Josephat Kunzewitsch (Ecclesiam Dei admirabili, 1923), Franz von Assisi (Rite expiatis, 1926), und Augustinus (Mortalium animos, 1928) zu würdigen. Damit setzte er die Reihe von Enzykliken über Kirchenlehrer, die sein Vorgänger Benedikt XV. begonnen hatte, fort.
Gegenwartsfragen wie Wirtschaft und Sozialverhältnisse bearbeitete er in seinen Enzykliken Quadragesimo anno (unter Mitarbeit von Oswald von Nell-Breuning S.J.) und Nova impendet (beide 1931), damit Rerum Novarum von Leo XIII. fortsetzend. Diese Enzykliken, auch jene von Johannes Paul II., verdienen in unserer Zeitschrift eine eigene ausführliche Erörterung.
Die Antrittsenzyklika
Darüber hinaus beklagte Pius die Verfallserscheinungen nach dem Weltkrieg in seiner ersten Enzyklika Ubi arcano Dei consilio: Feindschaft zwischen den Völkern, Klassenkampf, übermäßiger Parteienstreit (ohne die parlamentarische Demokratie abzulehnen!), Zerfall der Familien, sittliche Dekadenz, Missachtung der Religion. Hauptursache sei, „dass die Kraft des Rechts und die Achtung vor der Autorität geschwunden sind; sie mussten freilich schwinden, wenn man Recht und Autorität nicht mehr auf Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt als deren Quelle zurückführt“ (gemeint ist offenbar der säkulare Staat, liberalistisch nach innen, nationalistisch nach außen; z.B. Königreich Italien, Republique français). Das Heilmittel dieser Übel sei der Friede Christi: „Zuerst und vor allem muss in den Herzen der Menschen wieder Friede werden. Was hilft uns ein Friede, der nur äußerlich ist, nicht mehr als eine Umgangsform für den gegenseitigen Verkehr? Wir benötigen mehr, einen Frieden, der sich in die Herzen senkt, diese besänftigt und zu brüderlichem Wohlwollen geneigt macht. Ein solcher Friede aber ist nur der Friede Christi. (…) Er hat den Menschen das mit seinem Blut besiegelte Gesetz der allgemeinen Liebe und der gegenseitigen Toleranz verkündet: ,Dies ist mein Gebot: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe'. (...) Daraus ergibt sich klar, dass der wahre Friede, der Friede Christi, von der Norm der Gerechtigkeit nicht abweichen kann; heißt es doch: ,Gott richtet nach Gerechtigkeit'.“ Die Rolle der Kirche: Als einzige von Gott eingesetzte Hüterin und Lehrerin der genannten Glaubens- und Sittenlehren besitze die Kirche „ewige, unerschöpfliche Kräfte und Gewalten: sie vermag aus dem öffentlichen Leben, aus der Familie und der Gesellschaft den Materialismus, der schon so viele Ruinen geschaffen hat, zu bannen; sie kann (...) die christlichen Grundlehren über die Geistigkeit und Unsterblichkeit der Seele zur Geltung bringen; sie vermag alle bürgerlichen Klassen einander näher zu bringen und das ganze Volk in der Gesinnung eines aufrichtigen Wohlwollens und ,eines gewissen Brudersinnes' zusammenzuschließen; sie soll den Menschen in seiner Würde schützen und verteidigen und bis zur Höhe Gottes erheben. (…) Die Kirche als göttlich begründete übernationale Gesellschaft kann einzig das bieten, was man umsonst in völkerrechtlichen Institutionen sucht“.
Werde Christi Lehre, Gesetz und Beispiel von allen treu beachtet, im privaten wie im öffentlichen Leben, herrsche der Friede Christi, vorausgesetzt die menschliche Gesellschaft ist nach Gottes Gesetz geordnet, die Kirche erfüllt ihre göttliche Sendung und kann alle Rechte ausüben, die Gott über die Einzelnen und über die Gesellschaft besitzt. Dann bestehe das Reich Christi.
Christkönigsfest
In der Enzyklika Quas primas setzt Pius seine Ausführungen fort: Die tiefste Ursache der Zeitübel sei das Abfallen von Christus. Das Heilmittel sei der Friede Christi im Reiche Christi. „Seit langem ist es allgemeiner Brauch, Christus in übertragenem Sinn als König zu bezeichnen, um damit den höchsten Grad des Vorranges auszudrücken, der ihn vor allen Geschöpfen in erhabenster Weise auszeichnet. So sagt man, er herrsche über den Verstand des Menschen, wohl freilich kraft seines durchdringenden Geistes und seines umfassenden Wissens, noch mehr aber, weil er eben die Wahrheit selber ist und weil die Menschen von ihm die Wahrheit empfangen und in Gehorsam annehmen müssen. Er herrscht über den Willen des Menschen, nicht nur weil in ihm der Heiligkeit des göttlichen Willens eine vollkommene Geradheit und Unterwürfigkeit des menschlichen Willens entspricht, sondern weil er durch Antrieb und Eingebung unsern freien Willen dermaßen beeinflußt, dass er uns für die edelsten Dinge begeistert. Endlich wird Christus als König der Herzen anerkannt, wegen seiner Liebe, die alles Verstehen übersteigt und ob der Milde und Güte, mit der er die Herzen an sich zieht; nie wurde noch wird je in Zukunft ein Mensch von der Allgemeinheit der Völker so geliebt werden wie Christus Jesus. (…) Es gibt wohl niemanden, der nicht einsieht, dass der Name und die Gewalt eines Königs auch im eigentlichen Sinne des Wortes Christus als Mensch zuerkannt werden muss; denn nur insofern er Mensch ist, kann man sagen, Christus habe vom Vater die Macht, die Ehre und das Königtum erhalten. Als Wort Gottes, das eines Wesens ist mit dem Vater, muss er ja notwendigerweise alles mit dem Vater gemeinsamen haben und besitzt so über alle Geschöpfe die höchste und vollkommenste Gewalt“.
Christus sei Gesetzgeber, Richter und Inhaber der ausführenden Gewalt, diese sei v.a. geistiger Natur und umfasse alle Menschen. Den Gegensatz zur Königsherrschaft Christi bilde der Laizismus, „die Pest unserer Zeit“. Das Christkönigsfest soll alljährlich am letzten Sonntag im Oktober gefeiert werden.
Ein wichtiges Anliegen war die Mission (Enzyklika Rerum Ecclesiae): der Papst möchte „den heidnischen Völkern den einzigen Weg zum Heil bahnen“, zum einen grundsätzlich, zum anderen, weil die Mission im Ersten Weltkrieg stark beeinträchtigt war. Sie war neu zu organisieren, und zwar mit Respekt vor den Völkern in den Kolonien.
Alle diese Enzykliken, auch jene über Ehe, Film und Priesterausbildung sind ebenso wie Apostostolische Schreiben und Konstitutionen des Ratti-Papstes und in kathpedia http://www.kathpedia.com/index.php?title=Kategorie:Lehramtstexte_(Pius_XI.) sowie in http://w2.vatican.va/content/pius-xi/it.html abrufbar.
Der Papst gründete 1926 Radio Vatikan. Damit konnte er sich direkt an das Kirchenvolk wenden.
Pius XI. verstarb am 10.2.1939, eine Nacht vor dem zehnten Jahrestag des Lateranvertrags. Die faschistische Führungsclique in Rom soll darüber sehr erleichtert gewesen sein, denn der Papst hatte eine heftige Kritik an der (wie er meinte) ungenügenden Ausfüllung des Lateranvertrags beabsichtigt. Der „Völkische Beobachter“ - ausgerechnet er! - bezeichnete Pius' Politik als „roh und polternd“.
Zweifellos standen sich Hitler und Pius feindlich gegenüber. Klerikerverfolgung und Hetzkampagnen waren vorausgegangen. In mehr als einem Dorf war der drohende Schmähgesang der SA zu hören, wenn ein Pfarrer Widerspruch wagte: „Der Papst, der sitzt auf goldenem Thron und ringsherum die schwarzen Pfaffen. Was hat einer deutschen Mutter Sohn mit dem Papst und den Pfaffen zu schaffen?“ (1)
Literatur
David I. Kertzer: Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus. Darmstadt 2016 (zuerst: New York 2014)
1 So geschehen z.B. in Mömbris, Unterfranken 1936. Vgl. Helmut Winter: Der Mömbriser Pfarrer August Wörner. In: Unser Kahlgrund. Heimatjahrbuch, 31. Jahrgang (1986), S. 163-175, dort S. 165
© Stefan Winckler