Nein, er ist nicht besonders bekannt, der Ritter Guillaume le Maréchal (ca. 1147-1219). Er war kein gekröntes Haupt, kein Heiliger, kein Großmeister eines Ordens und kein Erzbischof oder Abt– was also ist der Grund, eine eingehende Biografie über ihn zu verfassen? Maréchal – Engländer normannischer Herkunft und Erziehung – war ein gesellschaftlicher Aufsteiger par excellance in schwierigen Zeiten, ein Diener von fünf englischen Königen, dessen Lebensbeschreibung zugleich Aufschluss über das Hochmittelalter in England und Frankreich gibt: zumindest über die Taten der Herrscher und ihrer Truppen, wenig über die Geistesgeschichte (damit hatte die Hauptfigur freilich auch kaum etwas zu tun). Durch eine zweifellos verherrlichende „Heldengeschichte“, die seine Familie nach 1220 erarbeiten ließ, war Guillaume de Maréchals Name in Hochmittelalter einigermaßen geläufig. Auf sie stützt sich Asbridge, Prof. für Mittelalterliche Geschichte in London, zum größeren Teil. Darüber hinaus verwertet er eine Darstellung aus dem 19. Jahrhundert. Wie so oft bei englischen und amerikanischen Autoren handelt es sich um ein im besten Sinne kommerziell orientiertes Sachbuch: bewusst „flott“, mit Einfühlungsvermögen und Leichtigkeit wird erzählt, nicht nur wissenschaftlich erörtert: „Hätte er mehr als nur einen Sekundenbruchteil Zeit gehabt, um über sein Handeln nachzudenken, hätte Guillaume möglicherweise anders reagiert. So aber entschied einfach sein Instinkt. Maréchal konnte es nicht über sich bringen, einen ungeschützten Gegner umzubringen, zumal es sich um den ältesten überlebenden Sohn Heinrichs II. handelte, faktisch immer noch Erbe des angevinischen Königreiches“ (S. 245).
Ebenso wägt Asbridge mit der Kompetenz eines Mediävisten ab, was Wahrheit und was Dichtung ist (besonders S. 312-316 am Beispiel von König Johanns Charakter). Es gelingt ihm zunächst einmal, aufzuzeigen, wie sich das Ritterwesen im Hochmittelalter entwickelte und wie es „funktionierte“: ursprünglich waren die „Ritter“ lediglich Krieger zu Pferde, aus denen nach und nach ein eigener Stand mit hohen Ansprüchen an sich selbst entstand: „Im Laufe des 12. Jahrhunderts wurde praktisch vorausgesetzt, dass sich Krieger an einem Kreuzzug beteiligten und an die ,ruhmreichen' Leistungen ihrer Vorfahren anknüpften, indem sie nicht mehr lediglich als milites kämpften, sondern militia Christi (Ritter Christi) wurden. (…) Doch stießen die heiligen Kriege auch die Frage an, wie christliche Ritter im Westen leben und sich verhalten sollten, woraus sich allmählich bestimmte Verhaltenscodices entwickelten. Die Forderung, dass Ritter höhere Ziele anstreben sollten als berittene Söldner, gewann an Nachdruck, als in der Folge des Ersten Kreuzzugs christliche Ritterorden entstanden“ (S. 71f). Aus dem Buch entnehmen wir aber auch, wie die Alltagskultur, etwa die Esssitten und Speisegewohnheiten der Ritter aussahen, welche Ausrüstung erforderlich war, wie die Turniere abliefen (größtenteils ohne Publikum – wer weiß das schon?). Vor allem werden am Beispiel Guillaume de Maréchals Krieg und Kampf im seinerzeit arg zerrissenen, teilweise englisch beherrschten Frankreich sowie die Konflikte um Richard Löwenherz, Philipp August und Johann Ohneland erläutert. Im Dienste König Johns war er, mittlerweile 67 Jahre alt, einer der Verhandlungsführer bei der Ausarbeitung der Magna Charta (übrigens im Hauptquartier der Templer in London) – was seine Bedeutung nur unterstreichen kann.
Was zu kurz kommt, sind die Werte und Tugenden des Rittertums, wie etwa Beständigkeit, Ehre, Maßhaltung, Zucht, Dienstbereitschaft, Milde. Wie weit waren sie entwickelt, inwiefern kamen sie „unter die Räder“?
Insgesamt informiert das Buch eingehend über das Hochmittelalter am Beispiel einer Ritterpersönlichkeit, die fünf englischen Königen nacheinander diente. Das prächtige Cover mit einer Turnierszene, die Landkarten und die zahlreichen Farbfotos der Schauplätze und einiger Handschriften sowie die Stammtafeln und eine Übersicht der wichtigsten Personen belegen die überaus sorgfältige Gestaltung des populärwissenschaftlichen Bandes von rund 480 Seiten.
Thomas Asbridge: Der Größte aller Ritter und die Welt des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta, 2015; 478 S.; ISBN 978-3-608-94923-0; € 29,95.
© Stefan Winckler