Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Reflexionen über Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt. Kein Nachruf, sondern eine persönliche Nachbetrachtung

Helmut Schmidt ist am 10. November 2015 fünf Wochen vor seinem 97. Geburtstag verstorben. Der Bundeskanzler der Jahre 1974 bis 1982 war Regierungschef in meinen Kindheits- und Jugendjahren. Schmidt war für mich zunächst auch nur einer jener Politiker, die in den Nachrichtensendungen und den Schwarz-weiß-Übertragungen der Bundestagsdebatten zu sehen war. Ebendort waren es der polternde Strauß, der wütende Wehner, die besonders auffielen, und eher abstießen. Spätestens aber mit der Entführung Hanns Martin Schleyers wurde Schmidt für mich interessanter. Natürlich, ich war erst zehn Jahre, aber es entsetzte mich, dass ein Mensch, der vorher auch im Fernsehen zu sehen war, plötzlich gekidnappt und seine Begleiter auf offener Straße ermordet worden waren. Nun verfolgte ich die Fernsehnachrichten, die mein Vater ohnehin allesamt abends einschaltete, noch genauer. Auch meine Oma war stets sehr interessiert. In jener Woche nach dem 5. September 1977 erweiterte sich mein Wortschatz um Begriffe wie „Ultimatum“ und „Krisenstab“. Personifiziert war der Widerstand gegen die Terroristen um Christian Klar und Gudrun Ensslin von Helmut Schmidt, gefolgt von seinen Bundesministern wie Werner Maihofer und Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski. Natürlich waren wir in der Familie alle für die Staatsmacht. Verschärft wurde das Drama noch durch die Entführung der Lufthansa-Passagiermaschine „Landshut“, auch dies unvergesslich. Zweifellos faszinierte die Befreiung der Geiseln. Der Oktobertag 1978 ist in Erinnerung, als ich zuhause mit Mathias Albert (heute Prof. für Politikwissenschaft in Bielefeld), meinem Schulfreund nicht nur der fünften Klasse, die Fernsehübertragung nach Rückkehr der GSG 9 verfolgte, während Otto Schily seine Version vom Ende der Stammheimer Terroristen ausbreitete. Was war ich über diesen unverschämten Anwalt empört! Zu Weihnachten 1977 wünschte ich mir die Dokumentation der Bundesregierung zur Entführung von Hanns Martin Schleyer und der „Landshut“ - und bekam sie auch. Als mich im Jahr darauf ein paar Mitschüler fragten, was ich mal werden wolle, sagte ich mit Blick auf Schmidt: Politiker (oder war es: Bundeskanzler?). Partei? SPD. Natürlich wegen Schmidt.

Aber 1978 hatte sich alles schon wieder beruhigt, so schien es, und meine Interessen verlagerten sich auf verschiedene Themen abseits der Politik. Alles schien wieder seinen geordneten Gang zu gehen, mehr und mehr Terroristen gerieten in die Fänge der Polizei. Dann kam das Jahr 1980: Ich war, nicht ohne den Einfluss meines Elternhauses und ein paar Wahlreden auf einem CSU-Fest im Nachbarort Kleinkahl, von Franz Josef Strauß begeistert (im Gegensatz zu Mathias Albert, der sich ebenfalls lebhaft interessierte), während andere Fans des Bayern-Torjägers Rummenigge oder des Popmusikers Sting waren. So war ich schlagartig sehr kritisch gegenüber Schmidt eingestellt – und war nicht einiges kritikwürdig (Kriminalität, Extremismus, Rauschgiftmissbrauch ...) in der Bundesrepublik? Und gehört in der Jugend, außer dem Wechsel der Idole, nicht auch die Neugier auf den Wechsel hinzu, die Erwartung an das Neue? Insofern war ich traurig angesichts von Strauß' Niederlage am Wahlabend des 5. Oktober 1980 und wütend in Wortgefechten mit meinen Klassenkameraden, die sich eben darüber freuten. Damals hatte Schmidt eindeutig den Vorzug der Bundesbürger vor Franz Josef Strauß genossen. Selbst zahlreiche CDU-Anhänger sahen in dem Sozialdemokraten die bessere Kanzlerpersönlichkeit: 2,5 Millionen sollen es laut Emnid gewesen sein (vgl. "Der Spiegel", Nr. 39/1980, S. 36).

Aber tatsächlich stand ich der Linie Schmidts näher, als es mir bewusst war. Der NATO-Doppelbeschluss, einschließlich der Absicht, im Falle des Scheiterns von Abrüstungsverhandlungen Mittelstreckenraketen und Cruise Missiles zu stationieren, ging auf Helmut Schmidt zurück und wurde von ihm in den frühen 1980er Jahren konsequent gegen alle Widerstände vertreten, auch auf die Gefahr hin, Wählerstimmen an die Grünen zu verlieren und der Buhmann Hunderttausender von Demonstranten zu sein. Dieses sicherheitspolitische Vorhaben leuchtete mir mit meinen 14 Jahren seinerzeit sofort ein, ja, ich war unbedingt für die NATO eingestellt (es war die Zeit, in der Werner Höfers Internationaler Frühschoppen zu meinem Sonntagmittag gehörte, und noch immer ist mir ein Stammgast jener Fernsehdiskussion im Gedächtnis, der wirkte, wie ich mit gemeinhin einen britischen Stabsoffizier der Reserve vorstellte: Frederick Bonnart). Hier kam es nicht auf aufsehenerregende Glanzlichter an, sondern auf Beständigkeit und Berechenbarkeit in einer Zeit, die unmittelbar nach der Bundestagswahl weniger optimismusgeladen, ja düsterer als die Jahre 1978-80 wirkte (unvergessen ein Titelbild des „Spiegel“ vom November 1980, das einen niedergeschlagen-nachdenklichen Schmidt vor einem Gewitterbild zeigt). In der Tat war Schmidt nicht der Typ des faszinierenden Neuerers. Kein Adenauer und kein Brandt, eher einer wie Strauß, der in der Krise seine Ausstrahlung entfaltet. In den späten 1950er Jahren näherte sich Schmidt dem grundlegenden Konzept der Adenauerschen Westintegration an, darin dem Hamburger Ersten Bürgermeister Max Brauer und den anderen pragmatischen sozialdemokratischen Amtsinhabern (auf Länderebene) folgend, aber alle Überlegungen zu einer Verfügungsgewalt der Bundesrepublik über Nuklearwaffen scharf ablehnend. Als Innensenator in Hamburg forderte er die Bundeswehr zur Abwehr der Sturmflut heran – zweifellos eine richtige Entscheidung, doch in der Geschichtsschreibung ging die Leistung Konteradmirals Bernhard Rogge, zuständiger Befehlshaber, unverdientermaßen völlig unter (Schmidt-Biograf Hartmut Soell1 erwähnt ihn nicht einmal). Im Herbst 1962 war Schmidt auf der Seite des linksliberalen Hamburger Juste Milieu in Sachen „Spiegel“-Affäre (das sich in dieser Angelegenheit als siegreich herausstellen sollte). Längst hatte er bewiesen, dass er mehr war als der scharfe Debattenredner „Schmidt Schnauze“ - insbesondere als Hamburger Innensenator. Nachdenklich und ehrlich antwortend war er Anfang 1966 in der Fernseh-Gesprächsreihe „Zur Person“ zu sehen, wo Günter Gaus die Spitzenpolitiker angenehm tiefschürfend zu Rede stellte. Während der ersten Großen Koalition war er als Vorsitzender der SPD-Fraktion zusammen mit seinem christdemokratischen Gegenüber Rainer Barzel einer der Garanten des Zusammenwirkens der beiden großen Bundestagsfraktionen zugunsten der Bundesregierung – verdienstvollerweise. Als erster sozialdemokratischer Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland veranlasste er einen übermäßigen Personalwechsel, indem u.a. mehr als einhundert Generale in den Ruhestand verabschiedet wurden (einige gingen auf eigenen Antrag, nachdem sie den „neuen Wind“ verspürten). Zugleich holte er Parteifreunde aus dem Hamburger Raum in das Ministerium, nicht unbedingt zur Freude der meisten Stabsoffiziere auf der Hardthöhe. Auf Schmidt gehen die Bundeswehr-Universitäten zurück. Seine Außenwirkung war enorm: 1972 war er, Demoskopen zufolge, derjenige Sozialdemokrat, der die höchsten Zustimmungswerte in der gegnerischen, der christdemokratischen Wählerschaft genoss (vgl. Spiegel 29/1972, S. 19) – ein dauerhaftes Phänomen (siehe oben) Umgekehrt war er, nach dem Abgang Karl Schillers als Bundesminister, derjenige, den die Neomarxisten unter dem Jusos am heftigsten befehdeten. Tatsächlich konnte Schmidt mit Kritik und Forderungen der 68er wenig anfangen, da er sich mit dem freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland sehr stark identifizierte, nachdem er den Totalitarismus Hitlers selbst erlebt hatte und die sowjetische Form der totalitären Herrschaft als Bedrohung wahrnahm. Im Finanzministerium kehrte nach den personellen Querelen der Schiller-Jahre wieder Ruhe ein, ohne dass an einer grundsätzlichen Kompetenz des Nationalökonomen Schmidt gezweifelt wurde. Als nach Willy Brandts Rücktritt Mai 1974 ein neuer Bundeskanzler zu bestimmen war, zweifelte kaum jemand, dass er Helmut Schmidt heißen würde. Wählerferne Theoriediskussionen und weltverbesserndes Geschwafel waren ihm ein Greuel, wie aus einer seiner Aussage unmittelbar nach Amtsantritt hervorgeht: „Draußen hat jetzt jeder gefälligst klarzumachen, was wir geleistet haben, und nicht nur über multinationale Konzerne und den Kapitalismus zu lamentieren“. In der Tat befriedigte Schmidt die Sehnsucht der Menschen nach klaren Worten und dem Verzicht auf Experimente. Diese Art, nicht um jeden Preis dem demokratischen Sozialismus entgegen zu stürmen oder gar die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft aufs Äußerste auszutesten oder gar eine Systemveränderung anzugehen, hat er mit seiner ersten Regierungserklärung unterstrichen, die unter dem Motto „Kontinuität und Konzentration“ stand. Kontinuität im Sinne einer Fortsetzung, aber Konzentration auf die dringenden Themen. Dies galt für die Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts der Ölkrise und deren Folgen, wo Schmidt in den folgenden acht Jahren eine mehr oder weniger keynesianische Wirtschaftspolitik der vergleichsweise hohen Ausgaben verfolgte, so dass die Staatsverschuldung ungewohnt schnell anstieg. Auch viele sozialpolitische Projekte erwiesen sich als teuer. Immerhin festigte sich Schmidt damit eine Hausmacht, nämlich die Arbeitnehmer, und genoss die Unterstützung der Gewerkschaften. In der Außenpolitik knüpfte er an seine Vorgänger an, wobei neben dem sehr intensiv gepflegten freundschaftlichen Verhältnis zu Frankreich (mit Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing) eine Belebung der Beziehungen zu Polen (er sah Generalsekretär Edward Gierek als Freund) hinzu kam. Bei all dem ließ er an seiner atlantischen Prägung keinen Zweifel, auch wenn er mit Jimmy Carter und Ronald Reagan weniger übereinstimmte als mit seinem Vertrauten Gerald Ford. Insgesamt wurde die Politik des Kanzlers dem Motto seiner Regierungserklärung gerecht. Alles in allem handelte es sich um ein eine gemäßigt sozialdemokratische Politik (verglichen etwa mit dem schwedischen Sozialismus), die freilich von den Freien Demokraten nicht ganz unerheblich zu einer „linken Mitte“ hin abgebremst wurde. Als jedoch die SPD 1981/82 immer stärker auf weitere ausgabenträchtige Beschäftigungsprojekte drang und die von ihm als Priorität angesehenen NATO-Doppelbeschluss ablehnte, blieb Schmidt seinen Überzeugungen treu: die (nunmehr) leeren Kassen wollte angesichts eines hohen Zinsniveaus nicht über Gebühr zu strapazieren, und eine Raketenstationierung („Nachrüstung“) war im Falle des Scheiterns von Verhandlungen vorzunehmen. Teile der FDP-Führung planten angesichts desaströser Wahlergebnisse den Absprung aus der Regierung, während eben diese Absichten die SPD im September 1982 wieder um so stärker zusammenschweißten. Das Tagebuch des Schmidt-Vertrauten Klaus Bölling, Regierungssprecher, offenbart die taktischen Bemühungen beider Seiten, der Öffentlichkeit die jeweils andere Partei als „Verräter“ erscheinen zu lassen. Nachdem Schmidt die FDP-Minister entlassen hatte, gelangte Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 ins Kanzleramt. Die Mehrheit der Wähler bestätigte den Wechsel.

Wann immer die Deutschen anschließend einen Bundestag wählten, waren die Ergebnisse der SPD niedriger als seinerzeit, wenn Schmidt Spitzenkandidat war. Hans Jochen Vogel, Johannes Rau und Oskar Lafontaine blieben stets unter den „Schmidt-Marken“ von 42,x Prozent 1976 und 1980. Über einen Mann, der Schmidts Ansehen im Ausland hatte, verfügten die Sozialdemokraten ebenso wenig, abgesehen von Willy Brandt.

Für viele Menschen aus meiner Generation mochte Schmidt nach 1982 ein Mann der Vergangenheit sein, auch wenn er sich als Mit-Herausgeber der „Zeit“ in zahlreichen Beiträgen zu Wort meldete. Stärker, schien mir, ist er in den letzten beiden Jahrzehnten mit seinen Büchern und Fernsehgesprächen hervorgetreten. Offenbar wurde er populärer, je länger seine Kanzlerschaft zurücklag – ein seltenes Phänomen. Imponierend war, zusammen mit seinen Kenntnissen, der Sicherheit und Klarheit seines Urteils, die geistige Frische, die dem 96-Jährigen bis zuletzt eigen war. Ob ich ihm zustimmen konnte oder nicht - langweilig war er niemals!

Schmidt erwies sich als jemand, der den Bürgern das Gefühl gab, mit hoher Lösungskompetenz die Krisen meisten zu können. Freilich war er weit mehr als ein „Macher“, vielmehr jemand der sich in der Nachkriegszeit ein geistes- und sozialwissenschaftliches Wissen angeeignet hatte. Der philosophisch bedeutsame römische Kaiser Marc Aurel in der Antike, Immanuel Kant als Vertreter der Aufklärung in Preußen und Karl Popper im 20. Jahrhundert waren seine Leitsterne; wie viele andere Männer seiner Generation war er ausgehungert nach geistiger Orientierung im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Nicht vergessen werden darf, dass Schmidt ein überzeugter protestantischer Christ war, der allerdings im Gegensatz zu solchen Politikern und Publizisten stand, die politische Einstellungen (oder gar Aktionen) unmittelbar mit ihrem Glauben begründeten und Andersdenkenden nicht selten die moralische Basis absprachen: „diese schreckliche evangelische Ecke“, personifiziert hierzulande u.a. von Erhard Eppler, in Amerika durch Jimmy Carter ("Der Spiegel", 37/1982, S. 32).

Bei allem staatsmännischen Glanz blieb Schmidt ein leidenschaftlicher, auch heftiger, verletzender Wahlkämpfer, der nicht jedermann zu jeder Zeit sympathisch, sondern oft arrogant und kalt erschien. Im persönlichen Umgang konnte er gleichermaßen gewinnend und verletzend sein, wie Strauß, Kohl und Genscher auch. Es bedarf nicht viel Fantasie sich einen wütenden Helmut Schmidt vorzustellen, der einem Mitarbeiter Akten vor die Füße schleudert. Wohl nicht nur wegen Franz Josef Strauß alleine kam es 1980 zur Einrichtung einer Wahlkampf-Schiedsstelle, die die übelsten Wahlkampf-“Entgleisungen“ zu rügen hatte. So schien es unfair, dass Schmidt am Ende der Fernsehsendung „Drei Tage vor der Wahl“ zu Strauß sagte, dieser habe „die francofaschistische Polizei auf Journalisten gehetzt“. Hier entlarvte sich Schmidt selbst, denn die Zuordnung Francisco Francos zu den Faschisten ist kennzeichnend für einen linken Standpunkt (Franco war ein autoritärer, antidemokratischer Konservativer, hatte aber zum genannten Zeitpunkt mit „Faschismus“ im Sinne Mussolinis und der faschistischen Bewegungen Europas kaum noch etwas gemein).

War Schmidt ein bedeutender Politiker, der ein ehrendes Gedenken über den Tag hinaus verdient? Ja! War er „der Jahrhundertmann“ ("Der Spiegel") oder gar „mehr als ein Jahrhundert-Kanzler“ ("Süddeutsche Zeitung")? Nein. Eine solche Erhöhung für jemanden, der sich nicht als Vorbild sah (2015 auf einer Veranstaltung der „Zeit“) hätte ihm missfallen. Schmidt fühlte wohltuend anders. „Alle, die Geschichte machen und sich ein Denkmal setzen wollten, sind im Grunde gescheitert. Ich betrachte mich als ein preußischer Hanseat, und es bereitet mir Genugtuung, meine Pflicht erfüllt zu haben, und wenn man sagt, ich habe sie gut erfüllt, bin ich froh." ("Der Spiegel", 37/1982, S. 32).

  

1Hartmut Soell: Helmut Schmidt. Bd. 1: Vernunft und Leidenschaft. München 2003

Ders.: Helmut Schmidt. Bd. 2: 1969 bis heute. München 2008

Eine Gesamtausgabe erschien 2011.

Soell ist Prof. (em.) für Geschichte in Heidelberg. Zugleich machte er eine politische Karriere im nahen Umfeld Helmut Schmidts: als Assistent der Fraktionsführung 1965-69 und als Bundestagsabgeordneter 1980-94. Dies begünstigte seinen Zugang zu Quellen. Insgesamt ist das Werk seiner vielen Details wegen von hohem Wert, andererseits kann die Sympathie des Autors zum Untersuchungsobjekt und seiner Partei auf manchen Leser aufdringlich wirken.

© Stefan Winckler

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