Deutsche Politikwissenschaftler in biografischen Porträts
Immer wieder, verstärkt in den vergangenen 30 Jahren, haben Politikwissenschaftler das eigene Fach zum Untersuchungsgegenstand gewählt, sei es als Bestandsaufnahme unter Einbeziehung der Fachgeschichte (PVS-Sonderheft 1986), sei es als Studie zur Geschichte der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum seit dem Spätmittelalter (Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann 1999 und Bleek 2001). Untersuchungen zur politikwissenschaftlichen Forschung und Lehre an bestimmten einzelnen Standorten wie z.B. Bonn (Ulrike Quadbeck: Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, Baden-Baden 2008) und Marburg (Lothar Peter: Marx an die Uni, Köln 2014) kamen hinzu. 1991 erschien in Marburg ein Sammelband mit zehn Biographien der „Gründerväter“ der bundesdeutschen Politikwissenschaft (Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel: Macht, Freiheit, Demokratie: Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft), dem die gleichen Autoren, nunmehr als Herausgeber, drei Jahre später eine weitere Anthologie folgen ließen, die sich der zweiten Generation der bedeutendsten bundesdeutschen Politikwissenschaftler in elf Aufsätzen widmete.
Zwei Jahrzehnte später wählten Eckhard Jesse und Sebastian Liebold (Chemnitz) als Herausgeber des umfangreichen Sammelbandes „Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung“ wiederum die Form der Biographie, um die verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkte, Methoden und den Öffentlichkeitseffekt von 50 deutschen Fachkollegen vorzustellen, die sie als besonders bedeutend einstufen. Etwa 50 weitere Autoren haben sich an diesem Projekt beteiligt, unter anderem so bekannte Namen wie etwa Klaus von Beyme (als ältester Biograph) oder Uwe Backes. Ausführlicher als bei Rupp/Noetzel sind nicht nur die einzelnen Aufsätze samt Literaturangaben, vielmehr beeindruckt ein Literaturverzeichnis zu deutschen Politikwissenschaftlern mit etwa 180 Angaben sowie eine Liste der Festschriften! Jesses und Liebolds Auswahl ist weit umfangreicher als jene von Rupp/Noetzel, sie enthält auch etliche Politikwissenschaftler der dritten Generation, die ihre Jugend in der Nachkriegszeit und ihre Studien-/Assistentenzeit im Umbruch der 1968er Phase verbracht haben. Der älteste Protagonist ist 1896 geboren (Arnold Bergstraesser), die zweite Generation umfasst Namen wie etwa Iring Fetscher (Jg. 1922), Thomas Ellwein (1927-1998) und Wilhelm Hennis (1923-2012), denen sich dann die Alterskohorte mit Jürgen W. Falter und dem jüngsten, Herfried Münkler (Jg. 1951) anschließt. Die Bandbreite der Lebenserfahrungen, der beruflichen Bedingungen sowie der Forschungsfragen und Methoden ist demnach gewaltig. Durch diese Zusammenstellung entsteht ein sehr anschauliches Bild der Politikwissenschaft von den Anfängen in der frühen Bundesrepublik bis heute.
Wer eine Sammlung von wissenschaftlichen Biographien zusammenstellt, ist aufgefordert, die Auswahlkriterien zu benennen: „fachliche Kompetenz, erfolgreiches Wissenschaftsmanagement samt – jedenfalls ansatzweise – Bildung einer meinungsprägenden Schule, öffentliche Sichtbarkeit“ (S. 18). Unter anderem stützten sich Jesse/Liebold auf Ranglisten, die die Einschätzung von Fachkollegen wiedergaben, wer zu den „wichtigsten Vertretern“ der Politikwissenschaft gehöre. Insgesamt ist die ausführliche, eingehende Erörterung, wer nun „aufnahmewürdig“ ist und wer nicht, vorbildlich gelungen (S. 17-31), und anspruchsvoller als bei Rupp/Noetzel.
Die Herausgeber analysieren eingehend verschiedenste Eigenheiten der bundesdeutschen Politikwissenschaft: Auch der Wandel des Faches – weniger Politische Theorie, mehr politische Soziologie und Internationale Politik (S. 62) wird beim Namen benannt, sogar die Frage nach dem „guten Stil“ wird gestellt (S. 62f): „Offenkundig geht die Nähe zur Ideen- und Zeitgeschichte mit Stilsicherheit einher“ (S. 63). Tabuisierungen und Modethemen werden erörtert (S. 64), ebenso Versäumnisse (Prognosen etwa zum Fall des Eisernen Vorhangs und der Deutschen Einheit fehlten in den 1980er Jahren (S. 67).
Die 50 biografischen Aufsätze (S. 85-810) sind alphabetisch geordnet. Der Umfang beträgt jeweils 14 Seiten. Jeder Text solle nach Maßgabe der Herausgeber möglichst objektiv „Vita – Forschungsschwerpunkte – Schulgründung und Wissenschaftsmanagement – Kritische Würdigung – Rezeption im Fach und in der Öffentlichkeit“ behandeln, sowie mit Angaben zu Primär- und Sekundärliteratur abschließen (S. 9). Mit diesen präzisen Anforderungen erscheinen die Aufsätze in der Tat strukturierter als jene in den Bänden von Rupp/Noetzel. Die klare Gliederung erleichtert es den Lesern, Leben, Werk und Wirkung der dargestellten Politikwissenschaftler zu vergleichen. Dabei werden auch fachliche Gegensätze zwischen akademischen Lehrern und ihren Schülern (in diesem Fall Carl Joachim Friedrich und Klaus von Beyme) deutlich, wenn der letztgenannte eben keine Hagiographie über den erstgenannten schreibt. Mehrfach wird dargelegt, wie ein Wissenschaftler der „mittleren Generation“ wie Dieter Oberndörfer das Lebenswerk seines Lehrers (hier: Arnold Bergstraesser) weiterführte. Die Autoren zeigen Forschungslücken auf (so wäre eine ausführliche Biografie über Hans-Peter Schwarz zu wünschen, wie Eckhard Jesse andeutet). Hervorzuheben ist die leicht verständliche Sprache – keine Selbstverständlichkeit in den Sozialwissenschaften!
Viele der hier gewürdigten Politikwissenschaftler genießen einen hohen Bekanntheitsgrad innerhalb ihres Fachs, wie etwa Karl Dietrich Bracher als erster (und lange Zeit einziger) Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeshauptstadt und Wolfgang Abendroth als Ziehvater der „Marburger Schule“, der den ersten politikwissenschaftlichen Lehrstuhl Westdeutschlands 1951 übernahm. Verdienstvollerweise ist in dieser Anthologie aber auch Siegfried Landshut porträtiert, der am Aufbau der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik ebenfalls seinen Anteil hat (Universität Hamburg), aber trotz seiner Edition des Marx'schen Frühwerks nur wenigen ein Begriff sein dürfte. Andererseits wird es Leser geben, die den einen oder anderen großen Namen vermissen. So ist Gesine Schwan nicht porträtiert – eine Entscheidung, die sich die Herausgeber nicht leicht gemacht haben. Auch Hans Buchheim hätte in diesem Buch vorgestellt werden können. Sicher hätte sich der Leser hier und da noch ein paar weitere Informationen gewünscht, etwa über Abendroths Kontroverse mit Ernst Nolte über die Habilitation von Reinhard Kühnl 1969ff., eine keineswegs belanglose Angelegenheit in Bezug auf die Entwicklung der Marburger Politikwissenschaft, wenn nicht gar darüber hinaus.
Der Blick der Herausgeber beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit. So konstatieren Jesse und Liebold, die „weiter eher westdeutsch geprägte“ Politikwissenschaft möge sich stärker der regionalen Ebene (auch das „Labor- und Experimentierfeld Ostdeutschland“ sei nicht unbedingt einheitlich) annehmen und Vergleiche ziehen. Themen, die sie nennen, bedürfen der interdisziplinären Forschung, also der Einbeziehung der Soziologie, des Staatsrechts, der Volkswirtschaftslehre und nicht zuletzt der Zeitgeschichte: Arbeitsbedingungen, Freizeitverhalten und Ehrenamt, des weiteren Fragen der Nachhaltigkeit und der transnationalen Wirtschafts- und Sozialbeziehungen). „Querverbindungen“ seien zu fördern – zur Geographie, Philosophie, Psychologie, selbst zur Germanistik (S. 68f). Jesse/Liebold mahnen, mehr Verständlichkeit und weniger Szientismus zu wagen, „weniger die Methoden als Selbstzweck zu betreiben, in der Lehre auf Aneignung von Wissen, öffentlich mehr auf politische Bildung und im Fach wie in der schulischen Bildung stärker auf Urteilskraft zu setzen“ (S. 69).
Ein Sach- und ein Personenregister erleichtern das Recherchieren. Das Buch ist vor allem den Lehrenden und Lernenden im Fachbereich Politikwissenschaft gerade auch wegen seiner zahlreichen Literaturangaben unbedingt zu empfehlen. Eine anspruchsvolle sozial- und geisteswissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit kann wertvolle Informationen daraus entnehmen.
Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschafter – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin. Baden-Baden: Nomos, 2014
© Stefan Winckler