Ein Vor-Denker: Was kann ein wertebewusster Volksvertreter leisten? Über die Erinnerungen von Bernhard Friedmann
Bernhard Friedmann, geboren 1932, verkörpert in hervorragender Weise die Leitlinien, die die Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zu verdanken hat: gemeint ist eine konservative Christdemokratie, der deutsche Patriotismus und das europäische Bewusstsein, nicht zuletzt die freundschaftlichen Gefühle zu Frankreich. Das Christentum – genauer: die katholische Konfession – bestimmt sein Wertegefüge. Der Ordoliberalismus der Freiburger Schule prägte den promovierten Nationalökonomen, der in jungen Jahren die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft erlebte. Ein wesentliches politisches Credo zitiert er auf S. 189: „Die Geschichte lehrt, dass Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft das schöpferische Potential der Menschen freizusetzen vermag, wie keine andere politische Ordnung“ (Matthias Rüb, FAZ vom 17.2.2011).
Nach beruflichen Tätigkeiten im Höheren Dienst der Oberpostdirektion Karlsruhe und im Bundespostministerium zog Bernhard Friedmann 1976 als direkt gewählter Abgeordneter für seinen heimatlichen Wahlkreis Baden-Baden-Rastatt in den Deutschen Bundestag ein. Dort machte er er sich einen Namen unter anderem als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusses und des Rüstungsausschusses, damit auf seiner berufssoziologischen Kompetenz als Wirtschaftswissenschaftler aufbauend. Im ersten Kapitel beschreibt er aus seinen Erfahrungen heraus sehr anschaulich die oft unterschätzten, verkannten Leistungen der Abgeordneten (S. 18-40). Der Satz „Volle Parlamente haben wenig zu sagen, leere Parlamente haben viel zu sagen“ (S. 24) leuchtet ein, wenn wir an die gefüllten Säle der DDR-Volkskammer oder gar an den chinesischen Nationalen Volkskongress zu Maos Zeiten denken, die freilich kaum etwas anderes waren als einmal jährlich stattfindende Funktionärstreffen. Demgegenüber zeigt Friedmann auf, was ein Abgeordneter außerhalb des Plenarsaals alles zu bearbeiten hat. Zum Objekt einer bundesweiten, ja internationalen Aufmerksamkeit wurde Friedmann ab 1986. Denn er erkannte früher als andere die Möglichkeiten, die Michail Gorbatschows Anpassung an die Realitäten gerade auch den Deutschen bot. Er wagte sich damit auf ein anderes Politikfeld, nämlich das der Auswärtigen Politik. Wenn sich die Supermächte über den Abbau der atomaren Mittel- und der Kurzstreckenraketen einigen, meinte Friedmann, sei dies ein Kurieren an Symptomen, angesichts der noch vorhanden konventionellen Waffenarsenale aber nicht der „große Wurf“. Vielmehr sei die Teilung Deutschlands und Europas durch den Eisernen Vorhang der eigentliche Konfliktherd. Es sollte daher auch die Deutsche Frage in den laufenden Verhandlungen angesprochen werden, damit ein Weg zur Wiedervereinigung auf der Basis freier und geheimer Wahlen gefunden werden könne. Dieser Vorstoß Friedmanns rief eine lebhafte Debatte in den Medien hervor (Zeitungsbeiträge sind im Anhang wiedergegeben), die durchaus Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein könnte. Tatsächlich erkannte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse 1986, dass die deutsche Vereinigung unvermeidlich sei, auch wenn Zeitpunkt und Ablauf noch ungewiss waren. Ausführlich erläutert Friedmann in diesem zweiten Kapitel des Buches seine Bemühungen, seine Briefe an Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, US-Botschafter Richard Burt und Richard von Weizsäcker sind abgedruckt. Hier wird abermals deutlich, was ein Bundestagsabgeordneter vorschlagen oder gar in die Wege leiten kann, wenn er sich auf seine Eigeninitiative besinnt. Um so mehr verwundert es, dass Friedmann zu den Feierlichkeiten am 3. Oktober 1990 in Berlin nicht geladen war. In späteren Jahren seiner Kanzlerschaft war Kohl jedoch an Friedmanns Rat interessiert und voll des Lobes über dessen Tätigkeit als Präsident des Europäischen Rechnungshofes. Dieses unabhängige Organ mit Sitz in Luxemburg „prüft die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben und überzeugt sich von der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung. Dabei berichtet er insbesondere über alle Fälle von Unregelmäßigkeiten“ (Vertrag über die Arbeitsweise der EU, Art. 287, im Buch S. 125). Subventionsmissbrauch sei aber nicht unbedingt „Brüssel“ anzulasten, sondern den einzelnen Mitgliedsstaaten, die den Haushaltsvollzug verantworten. Richtig! Zumindest teilweise, so Friedmann, sollten die EU Zuschüsse lieber als Darlehen gewähren. Auch der Rechnungshof selbst könne mit einer stark verkleinerten Spitze aus fünf bis sieben Personen durchaus effizient arbeiten (S. 183f.).
Sein herausragendes Interesse galt von Anfang an der EU-Osterweiterung. Er begegnete während der Zeit des Systemwandels nach 1990 zahlreichen Vertretern der politischen Elite in den unterschiedlichsten Ländern Europas, auch außerhalb der EG bzw. EU. Bezeichnenderweise waren es nicht die östlichen Gesprächspartner, sondern einige Bürger und auch EU-Beschäftigte aus den seit langem befreundeten und verbündeten westlichen Staaten, die hin und wieder Parallelen zwischen dem geeinten Deutschland und dem NS-Staat zogen oder deutsche Großmachtgelüste witterten (vgl. S. 132f., S. 150).
Abschließend mahnt der überzeugte Europäer Friedmann: Bezüglich der EU und ihren Mitgliedsstaaten komme es ganz besonders auf die Bewahrung und das Bekenntnis des Eigenen an. „Die Identität eines jeden Mitgliedsstaates darf nicht unterbunden oder an die Wand verdrängt werden. Ganz im Gegenteil: Sie sollte sogar gefördert, jedenfalls aber erhalten werden. Europa darf nicht zu einem Einheitsbrei verkommen, sondern muss eine Gemeinschaft selbstbewusster und selbstständiger Staaten bleiben. Das führt zu schöpferischer Vielfalt und begeistert mit Sicherheit die meisten Bürgerinnen und Bürger. (…) Im übrigen sollte der Integrations- und Expansionsprozess der EU behutsam angegangen werden. Ein altes Sprichwort sagt: Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt“ (S. 240f.).
Im Ganzen betrachtet, handelt es sich bei diesem Buch um ein Resümee aus rund vier Jahrzehnten praktischer Politik. Es ist aufschlussreich, selbst für den gut informierten Zeitungsleser bringt es neue Erkenntnisse. Dank seiner Einführung in die Arbeitsweise der Bundestagsabgeordneten ist das Buch als Schullektüre für den Sozialkunde- bzw. Gemeinschaftskundeunterricht zu empfehlen, zumal Klarheit und Verständlichkeit die Lektüre erleichtern. Auch die anderen Informationen über die „Einheit statt Raketen“-Debatte und die europäische Politik ließen sich im Unterricht an der gymnasialen Oberstufe sehr gut verwerten.
Bernhard Friedmann: Undenkbares denken. Nicht alles unter den Teppich kehren. Reinbek/München 2015
© Stefan Winckler