Geboren am 21.3.1927 in Halle/Saale, wollte der junge Rechtsanwalt Genscher den erzwungenen Weg seiner Liberaldemokraten in der totalitären DDR nicht mitgehen und floh in die Bundesrepublik. Der ihm eigene sächsisch-hallensische Landespatriotismus blieb bis zuletzt bestehen. In der FDP machte er als einer der jüngeren Mitarbeiter Erich Mendes ab 1959 Karriere. 1969 favorisierte er, mit Blick auf flexiblere Ostpolitik, eine Koalition seiner Partei mit der SPD, d.h. eine Bundesregierung Brandt/Scheel. Innenpolitisch sah er wenig Veränderungsbedarf.
Als Bundesminister des Inneren (1969 bis 1974) stand er insbesondere für eine Aufwertung des Umweltschutzes und - öffentlichkeitswirksamer - für den Kampf gegen den Terrorismus der RAF, wobei sein innovatives Zusammenwirken mit Horst Herold, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, zu erwähnen ist. Er bot an, im Austausch für die israelischen Geiseln anlässlich der Münchner Olympiade in die Gefangenschaft der PLO-Terroristen zu gehen. Nachdem Genscher in der Bundesregierung Schmidt 1974 Minister des Auswärtigen geworden war, stellte sich bald heraus, dass er keine Verlegenheitslösung war. Schnell erwarb er sich die Anerkennung seiner besser ausgebildeten Amtskollegen wie z.B. Henry Kissinger. In jener Zeit stand er, gleichwohl Vertreter der Entspannungspolitik, nicht zuletzt für den NATO-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt initiiert hatte - und den immer größere Teile der SPD ablehnten. Eben dies war einer der Gründe für Genscher, nicht ohne Zögerlichkeiten und taktischen Erwägungen, eine Koalition mit der CDU/CSU in Angriff zu nehmen. Dieser Wechsel, der sich in ersten Umrissen 1981 andeutete, trug ihm die Feindschaft der einflussreichen Medien „Spiegel“, „Stern“, „Süddeutsche Zeitung“, „Zeit“ und zahlreicher Journalisten der öffentlich-rechtlichen Anstalten ein, die in den folgenden Jahre anhielt, auf erhebliche Teile der Bevölkerung wirkte und ihn 1985 vom Parteivorsitz zurücktreten ließ. Im weiteren Verlauf der 1980er Jahre entspannte sich die Situation: Als Außenminister gelang es ihm, der populärste Politiker der Bundesrepublik zu werden und sicher auch bei den Deutschen in der DDR hoch angesehen zu sein. Früher als Helmut Kohl erkannte er Michail Gorbatschows Willen, stärker Merkur als Mars (um ein Bonmot von Franz Josef Strauß zu gebrauchen) zur Symbolfigur der Ost-West-Politik zu machen. Das Epochenjahr 1989 war für ihn ein persönliches Schlüsseljahr: noch nicht vollständig erholt von einem Herzinfarkt, wirkte er maßgeblich an der sicheren Ausreise der geflohenen DDR-Deutschen aus der Prager Botschaft mit. Genschers (und Kohls) außenpolitische Verlässlichkeit und seine gesamtdeutsche Orientierung trugen mit zur erfolgreichen diplomatischen Gestaltung der Deutschen Einheit bei; man denke nur an die 2+4-Verhandlungen. Weniger auffällig, aber nachhaltig war sein Einsatz für eine Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft in Richtung einer europäischen Union und einer Währungsunion zumindest mit Frankreich. Als Parteivorsitzender der Liberalen mit bürgerlicher Ausstrahlung vermied er eine Verengung auf die Bürgerrechtsthematik einerseits und die Steuerpolitik andererseits, stand vielmehr für ein vergleichsweise breites Spektrum. Der farblich kompatible gelbe Pullunder war da schon das Äußerste an Äußerlichkeit, lange vor dem „Kanzlerkandidatur-“ und der „18-Prozent“-Anstrich späterer Wahlkämpfe einer anderen Politikergeneration. Nach seinem Rücktritt als Minister 1992 – gesundheitliche Probleme sowie das Erreichen der großen Ziele deutscher und europäischer Politik sind vorausgegangen – blieb Genscher als elder statesman in Vorträgen, Hintergrundgesprächen und seinen Memoiren (1995) präsent, wenn es um die aufgeführten Weichenstellungen ging.
Hans-Dietrich Genscher verstarb am 31.3.2016 in seinem Haus bei Bonn.
© Stefan Winckler