Ein Opfer politischen Terrors. Walther Rathenau wurde vor einhundert Jahren ermordet
Reichsaußenminister Walther Rathenau verstarb im Kugelhagel eines präzise geplanten Attentats am 24. Juni 1922. Sein Chauffeur fuhr ihn vormittags von der Privatvilla am Grunewald ins Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße, als ihn ein Wagen überholte und mehrere Männer das Feuer aus Maschinenpistolen eröffneten. Zusätzlich warfen sie eine Handgranate.
Hintergründe des Mordes
Das Attentat war Teil einer Verschwörung, um führende demokratische Politiker des von mehreren Seiten (Kommunisten und Nationalisten im Inneren sowie Frankreich von außen) gefährdeten republikanischen Deutschlands zu ermorden. Die Täter gehörten der „Organisation Consul“ unter Führung von Kapitän Hermann Ehrhardt an. Einer der Mörder, Ernst von Salomon, gab rückblickend die anti-patriotische Verblendung der Bande zu: Rathenau sei gerade deswegen ermordet worden, weil seine Außenpolitik für Deutschland erfolgreich gewesen sei.1
Der Historiker Hubertus Prinz zu Löwenstein schrieb zu Recht: „Die Rechtsradikalen brachten den Makel der Blutschuld auf den deutschen Namen, als sie den Mord als ein Mittel der Politik einsetzten. Es begann am 16. Januar 1919 mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, einer bedeutenden Frau, was immer man von ihren politischen Ansichten halten mag. Am 21. Februar 1919 wurde Kurt Eisner ermordet. Matthias Erzberger war am 29. August [1921] das nächste Opfer, (…). Die Aufdeckung einiger Fememorde enthüllte einen erschütternden sittlichen Tiefstand und zog das deutsche Ansehen in der Welt herab. Banden von jungen Männern, durch den Krieg aus der Bahn geworfen und geordnetem Leben und dem Gesetz entwöhnt, erweckten Erinnerungen an marodierende Landsknechte aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege“.2 Nationalismus, Ablehnung der demokratisch verfassten Republik und Antisemitismus waren die Hauptkennzeichen.
Dem Rathenau-Attentat ging der linksradikale März-Aufstand im Raum Halle-Merseburg einerseits und die rechtsradikal motivierte Vergiftung des Meinungsklimas voraus: Die Republik war dem Zangengriff ihrer Feinde ausgesetzt. Hass und Hetze gegen Spitzenpolitiker fanden sich in rechtsextremen Postillen. Beispielsweise stand folgender Zynismus in der Hamburger „Reichsflagge“: „Gott erhalte [Reichspräsident] Ebert, [Reichskanzler] Wirth und [Reichsministerpräsident a.D.] Scheidemann. Erzberger hat er schon erhalten.“ Auch Sprüche von der untersten Stammtischkante des Antisemitismus waren im nationalistischen Milieu laut geworden. Es gehe nicht nur gegen Rote und Schwarze, sondern gegen führende Politiker: „Auch der Rathenau, der Walther, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau“. Dass sich Rathenau zuerst und vor allem als Deutscher fühlte, wie nahezu alle jüdischen Bürger im Reich, hatte er in seinem Buch „An Deutschlands Jugend“ geschrieben (Berlin 1918, S.9). Seine jüdische Identität war sehr schwach entwickelt. Das interessierte die Fememörder aber nicht.
Wir wollen aus Anlass des einhundertsten Todestag und im Anschluss an unseren vorangegangenen Themenschwerpunkt Extremismus das Opfer dieses politischen Mordes in einer kurzen biografischen Studie vorstellen.
Herkunft
Walther Rathenau entstammte einer preußischen Familie, die hohe Ansprüche an ihre Leistungskraft stellte. Der Vater Emil Rathenau (1838 bis 1915) studierte Maschinenbau, erwarb praktische Kenntnisse im „Mutterland der Industrialisierung“ England, bemühte sich vergeblich, Werner von Siemens zur Elektrifizierung der Berliner Straßenbeleuchtung zu gewinnen. Schließlich gründete er die Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft (AEG) deren Ausbau zu einem der führenden elektrotechnischen Unternehmen Europas zu seinem eigentlichen Lebenswerk werden sollte. Mehr als der ältere Werner von Siemens war der mit drei Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Emil Rathenau ein risikobereiter Unternehmer, der in technisches und industrielles Neuland vorstieß.
Sein Leben entsprach den Vorstellungen der protestantischen Arbeitsethik von Fleiß und Disziplin, die er an seinen Sohn weitergab. Eine jüdisch-religiöse Identität Emils war kaum entwickelt, in der Synagoge wurde er als Erwachsener nie gesehen. Emils Ehefrau Mathilde, als geborene Nachmann aus einem sehr alten jüdischen Geschlecht stammend, gab hingegen das schöngeistig-musische Element an Walther weiter.
Walther Rathenaus jüngerer Bruder Ernst übernahm bereits mit 26 Jahren das Kabelwerk Oberspree in Berlin-Oberschöneweide, verstarb jedoch als 31-Jähriger im Jahre 1903. Er gehörte dem Direktorium der AEG an und war als Nachfolger des Firmengründers vorgesehen.
Seine Schwester Edith (1883 bis 1952) galt als die „intellektuellste Frau Berlins“3 . Sie leitete einen literarischen Salon, in dem Bildungsbürger zu Vorträgen und Diskussionen zusammenkamen. Sie pflegte Freundschaften mit Gerhard Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal. Es war ein Ziel, im Zeitalter der Massen mit der damit verbundenen Emotionalisierung der Debattenthemen Geist und Geschmack zu bewahren und sich selbst geistig weiter zu entwickeln.
Max Liebermann (1847 bis 1935) war ein Cousin des Vaters, also ein Onkel zweiten Grades von Walther Rathenau, und mit ihm sehr vertraut. Ein weiterer Verwandter war Hugo Preuß, der „Vater“ der Weimarer Reichsverfassung von 1919.
Aufstieg
Walther Rathenau, 1867 in Berlin geboren, wuchs in einer sehr stark assimilierten Familie auf, die im Dezember sogar einen Weihnachtsbaum ins Haus holte. Er studierte in Straßburg und Berlin Physik, Chemie, Mathematik und Philosophie, anschließend Maschinenbau und Elektrotechnik in München. Eine der größten Enttäuschungen seines Lebens war, dass ihm der Aufstieg zum Reserveoffizier während des Militärdienstes 1890/91 verwehrt blieb: weil er Jude war. Er stellte tief verletzt fest, als Jude – selbst wenn er sich taufen ließe – sei er in Deutschland ein Bürger zweiter Klasse.
Von 1898 bis 1907 leitete Rathenau ein Elektrochemisches Werk in Bitterfeld, an dem die AEG beteiligt war. Zur AEG gehörten Filialbetriebe und neu aufzubauende Fabriken im benachbarten Ausland. Er kümmerte sich um Vertretungen der AEG im In- und Ausland, weniger als Initiator denn als derjenige, der Bestehendes ausbaute. Er entwickelte Verfahren zur Gewinnung einiger chemischer Verbindungen und meldete verschiedene Patente an. So verwundert es kaum, dass Rathenau im Jahr 1899 in das Direktorium der AEG eintrat. 1902 wechselte er in den Vorstand der Berliner Handels-Gesellschaft (eine bedeutende Bank mit engsten Beziehungen zur AEG) und 1904 in den AEG-Aufsichtsrat (1910: stellvertretender Vorsitzender,1912 Vorsitzender). Weitere Mandate kamen bis zum Ersten Weltkrieg hinzu, so dass sein Spitzname „Aufsichtsrathenau“ die Runde machte.
Rathenau überlegte seinerzeit, politische Verantwortung zu übernehmen. Ein hoher Posten in der Verwaltung wäre für einen jüdischen Deutschen ein Novum gewesen. Reichskanzler Bernhard von Bülow zog ihn als Leiter des Reichskolonialamts in Erwägung, und auch die Leitung des Reichsschatzamts war im Gespräch. Wilhelm II. verlieh ihm 1910 den Roten Adlerorden II. Klasse. Eine Kandidatur zur Reichstagswahl 1912, getragen von allen liberalen Parteien, schien Rathenau zu reizen, doch zog er sie wieder zurück. Rathenaus Biograf Christian Schölzel verweist in diesem Zusammenhang auf den Antisemitismus. Gegnerschaft und Feindschaft gegenüber Juden gab es zweifellos im Kaiserreich, doch waren diese Tendenzen gerade in Berlin nicht allzu sehr ausgeprägt und meines Erachtens nicht ausschlaggebend. Es fiel ihm offenbar leichter, sich als politischer Autor an ein lesendes Publikum und weniger an potenzielle Wähler oder an einzelnen Menschen zu wenden. Dazu passt auch, dass Rathenau niemals heiratete. Hugo von Hofmannsthal schilderte ihn als persönlich unsicheren Menschen, trotz seiner intellektuellen Brillanz: Offenbar befürchtete er, einem hoch kompetenten Gesprächspartner fachlich zu unterliegen.
Die Liebe des Besitz- und Bildungsbürgers Rathenau zu Kunst und Literatur war stark ausgeprägt. Dabei war er, bei aller Aufgeschlossenheit für die Moderne, kein Freund der neuesten, gar avantgardistischen Strömungen: Der Expressionismus missfiel ihm, während er (durch Liebermann geprägt) den Impressionismus bevorzugte – und den Klassizismus sowieso (als Sommersitz erwarb er Schloss Freienwalde).
Die Idee
Noch vor Kriegsbeginn, Ende 1913, formulierte Rathenau seine geradezu revolutionäre Idee eines europäischen Zollvereins, der eine gewisse Angleichung der Handelsgesetzgebung der Mitgliedstaaten und eine Aufteilung der Zolleinnahmen mit sich brächte.4 Unmittelbar nach Kriegsbeginn kam er in einem Brief an Reichskanzler Bethmann-Hollweg darauf zurück: „Die Gefahr der deutschen Isolation verschwindet, sobald wir den Länderkomplex, der zivilisatorisch eine Einheit bildet, durch gemeinsame Arbeitsinteressen verschmelzen“.5 Hier klingt vage ein Modell an, das an die Montanunion und die EWG erinnert – gemeinsames Wirtschaften schaffe Frieden.
Im Amt
Zuallererst aber galt es, die Streitkräfte zu unterstützen. Rathenau regte die Schaffung einer zentralen Behörde zur Verwaltung der kriegswichtigen Rohstoffe an, deren Führung er übernahm. Was bedeutete das im Einzelnen? In einem Brief an die Neue Zürcher Zeitung erinnerte er an Möglichkeiten und Grenzen seines Auftrags:
„Als 1914 der Krieg begonnen hatte, und in wenigen Monaten durch die englische Blockade die deutsche Rohstoffwirtschaft zu erliegen drohte, konnte das Reich an den Vorräten, die in Belgien und Nordfrankreich lagen, nicht vorübergehen, um so weniger, als die Stoffe, um die es sich handelte, in erster Linie Wolle und Salpeter, kaum eine weitere Verwendung als die für die Kriegswirtschaft dienende zuließen. Die Rechtsverhältnisse wurden eingehend geprüft, und es ergab sich, daß die Haager Landkriegsordnung die ordnungsgemäße Beschlagnahme von Rohmaterialien gestattete. Ich leitete damals die Rohstoffabteilung des preußischen Kriegsministeriums und hatte für die Aufteilung und Bewirtschaftung der beschlagnahmten Materialien zu sorgen. Obwohl ich über den Kreis der Aufgaben, der mir gezogen war, hinausging, legte ich größten Wert darauf, dahin zu wirken, daß gleich von Anfang an vorgearbeitet würde, um eine gerechte und unparteiische Bewertung aller beschlagnahmter Waren und eine volle Entschädigung der Vorbesitzer zu ermöglichen“.
Durch Reichsgesetz wurde ein „unabhängiger Gerichtshof“ namens „Kriegsentschädigungskommisssion“ geschaffen, der die „unbeeinflussbar von jeder Amtsstelle nach freiem Ermessen die Werte aller beschlagnahmten Waren“ bestimmte und die Enteignung vergütete“. Gegen die „Wegführung belgischer Arbeiter“ und die Zerstörung von Fabrikanlagen habe er vergeblich protestiert“.6
Politische Schriften
1915 kehrte Rathenau (wohl auch wegen Krankheit und Tod des Vaters) zur AEG zurück und bemühte sich fortan, von außen in Denkzirkeln und nicht mehr als Behördenleiter Einfluss auf die Politik zu nehmen. Die Denkschrift „Von kommenden Dingen“ (1915/16 verfasst) enthält eine grundsätzliche deutliche Ablehnung des Sozialismus, gerade auch eines sozialistischen Weltstaates. Auch der Wirtschaftsliberalismus könne keine Lösung sein. Gemeinwirtschaftliche Ideen sollte er in den folgenden Jahren präzisieren. Der Reichstag übe Kritik und vertrete Einzelinteressen; er müsse lernen, Verantwortung zu übernehmen. Die Erfahrungen der Weimarer Republik sollten zeigen, wie recht Rathenau hatte. Trotz des Titels kann die Abhandlung kaum als Prophetie gelten. Das eher philosophisch und weniger volkswirtschaftlich gedachte Buch in Form eines mehrhundertseitigen Essays fand einen guten Absatz (79 Auflagen bis 1925) und wurde oft rezensiert.
Die Novemberrevolution enttäuschte ihn - obwohl er die Monarchie als feudalistisch und militaristisch charakterisiert hatte. Im Herbst 1918 habe kein Geistes- oder Willensakt die Ketten gesprengt, vielmehr sei bloß ein Schloss durchgerostet, die Kette fiel, die „Befreiten“ seien verblüfft und hilflos gewesen.7 Sein Ziel war ein verstärktes Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl der verschiedenen Schichten und Gruppen im Volke für das Ganze, ein Abbau des Obrigkeitsstaates zugunsten von „Führung“ und Mitbestimmung“. 8
Vielleicht waren diese Gedanken zu vage, zu wenig griffig, um politisch wirksam zu werden.
Politische Verantwortung
Als Sachverständiger nahm Rathenau an der Internationalen Reparationskonferenz in Spa 1920 teil: ein weiterer Schritt in die praktische Politik. Der Verhandlungsspielraum der deutschen Delegation war gering. Es ging ihm darum, Vertrauen zu schaffen, bessere vertragliche Vereinbarungen über Kohlenlieferungen an Frankreich zu treffen und durch eine solche „Erfüllungspolitik“ eine drohende französische Besetzung des Ruhrgebiets zu verhindern. Dies gelang 1920.
Wie war die parteipolitische Unterstützung? Rathenau war Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, aber dort ein Außenseiter. Seine geistigen Fähigkeiten waren schon im Kaiserreich anerkannt, aber er konnte keine Anhänger um sich scharen, geschweige denn eine Hausmacht aufbauen. Rathenau war ein Einzelgänger, den einen zu sehr der Mann der Großindustrie, den anderen bereits zu nahe an der (Mehrheits-)SPD. Vereinfacht gesagt: „Die Alten sahen in mir die Revolution, die Jungen in mir die Reaktion“.9
Nachdem Rathenau bereits 1913 für ein Amt in der Reichsleitung (heute würden wir sagen: als Minister) im Gespräch war, berief ihn Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) im Jahre 1921 zum Minister für Wiederaufbau. Ihm oblag die deutsche Beteiligung an der Rekonstruktion der französischen Gebiete, die im Ersten Weltkrieg schweren Schaden genommen hatten. Auf diese Art wollte er die deutsche Reparationsschuld in Grenzen halten und Deutschland den Wiedereintritt in die westlichen Märkte ermöglichen – anstatt über 40 Jahre viele Milliarden Goldmark zu zahlen. Der dazu abgeschlossene Vertrag mit Frankreich, das Wiesbadener Abkommen, brachte jedoch wenig Fortschritte, da die Bestellungen der Franzosen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Außerdem wollte die französische Wirtschaft eine deutsche Konkurrenz verhindern.
Gegenüber Großbritannien versuchte Rathenau ebenfalls, Sachlieferungen mit den Reparationsforderungen zu verrechnen.
Über Rathenaus Auftritt auf der Konferenz zu Cannes (Januar 1922), wo die Reparationen das beherrschende Thema waren, schrieb der britische Premier Lloyd George: „... bemerkenswert durch die geschickte, eindrucksvolle und zähe Kampfmethode Rathenaus, mit der er sein Land davor bewahren wollte, durch Forderungen, die seine Kraft überstiegen, in völlige Zahlungsunfähigkeit hineingedrängt zu werden“10 Tatsächlich erreichte Rathenau einen Zahlungsaufschub.
In seine kurze Zeit als Reichsaußenminister fiel außerdem, nach dem Scheitern einer Einigung mit den Westmächten auf der Konferenz von Genua, das Abkommen von Rapallo mit Sowjetrussland, was die außenpolitische Isolation Deutschlands zumindest in Richtung Osten aufbrach. Die treibende Kraft hinter dem Abschluss war der deutsche Diplomat Ago von Maltzan, der seit Monaten auf die Übereinkunft hingearbeitet hatte. Der Vertrag schloss Reparationsforderungen zwischen Berlin und Moskau aus und führte zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen führte. Insgesamt war Rathenau aber eher auf eine Verständigung mit Frankreich und Großbritannien ausgerichtet, während Reichskanzler Joseph Wirth größere Hoffnungen auf die Ostpolitik setzte, nachdem ihn der Westen wegen der erzwungenen Abtretung Ost-Oberschlesiens enttäuscht hatte. Die Entente missbilligte den Vertrag.
Am Tag vor seiner Ermordung resümierte Rathenau, eine Mäßigung der Entente-Forderungen an Deutschland sei gerade auch in Interesse der Westmächte: Wenn Deutschland verarme, werde sich das Volk den Kommunisten zuwenden. Und das wirke im industrialisierten Mitteleuropa noch verheerender als im agrarischen Russland.
Morddrohungen gegen den Minister hatte es in großer Zahl gegeben. Er zog den Schluss: „Ein Staatsmann, der vor der breitesten Öffentlichkeit seines Landes steht, muss – wenn es das Schicksal so will – auch zum Märtyrer bereit sein“.11
Reaktionen auf Rathenaus Tod
Zwar war der Rathenau-Mord nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem „Selbstmord Deutschlands“ (David Lloyd George soll diesen Suizid-Vergleich ausgesprochen haben). Aber er war ein massiver Einschnitt in der politischen Entwicklung, und eine Persönlichkeit wie Rathenau fehlte dem Reich in den Folgezeit zweifellos (erst recht, nachdem Friedrich Ebert 1925 und Gustav Stresemann 1929 unter den politischen Belastungen verstorben waren). Im rechten Lager mochte es hier und da Schadenfreude gegeben haben – nicht nur klammheimlich. Aber rund zwei Millionen Deutsche beteiligten sich an Trauerkundgebungen, und für nächsten Tag riefen die Gewerkschaften zu einer allgemeinen Arbeitsniederlegung auf.
Stefan Zweig, zusammen mit Frank Wedekind, dem Journalisten Maximilian Harden und Harry Graf Kessler einer seiner Freunde, würdigte Rathenau kurz nach seinem Tode als Renaissance-Menschen:
„Er war plötzlich aus einer scheinbar privaten Existenz an sichtbare Stelle gerückt. Aber er war schon immer da, überall hatte man sein Wirken gefühlt, überall in Deutschland diesen erstaunlichen überragenden Geist gekannt, nur war diese Wirkung niemals eine einheitliche, zu einem nennbaren Begriff geschlossene gewesen, denn jeder einzelne kannte ihn aus anderer Sphäre. In Berlin hatte er lange, ja unerlaubt lange bloß als der Sohn seines Vaters Emil Rathenau gegolten, des Elektrizitätsmagnaten: in Berlin, in der Heimat war er immer der Erbe. Die Industrie kannte ihn aber längst als Aufsichtsrat von fast hundert Unternehmungen, die Bankiers als Direktor der Handelsgesellschaft, die Soziologen als Verfasser kühner und neuartiger Bücher, die Höflinge als Vertrauensmann des Kaisers, die Kolonien als Begleiter Dernburgs [Staatssekretär im Reichskolonialamt], das Militär als Leiter der Rohstoffaktion, das Patentamt als Urheber mehrerer chemischer Erfindungen, die Schriftsteller als einen von ihnen, und ein Theaterdirektor fand sogar nach seinem Tode noch ein Drama von ihm im verstaubten Schrank. Seine physische Gestalt – hochgewachsen, schlank – tauchte überall auf, wo geistige Kräfte in Regung waren, man sah ihn bei den Premieren Reinhardts, dessen Theater er begründen half, im Kreise Gerhart Hauptmanns ebenso wie in der Welt der Finanzen. Er fuhr von einer Aufsichtsratssitzung zur Eröffnung der Sezession, von der Matthäuspassion zu einer politischen Besprechung, ohne darin eine Gegensätzlichkeit zu fühlen – in seiner enzyklopädischen Natur war eben alle Betätigung und Bemühung, alle Problematik des Geistes und der Tatsachen zu einer einzigen tätigen Einheit gebunden“. 12
Albert Einstein, oft Gast Rathenaus in der Königsallee, hielt diesen für „eine der größten Gestalten der Welt- und Kulturgeschichte“.
Rathenaus Mutter Mathilde schrieb an Gertrud Techow, die Mutter des Mordkomplizen:
„In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet, als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben.“
Walther Rathenau ist im Familiengrab auf dem Waldfriedhof Wuhlheide im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick beerdigt.
Der schriftliche Nachlass Rathenaus lagert nach wie vor im Staatlichen Zentralarchiv in Moskau. Die Rote Armee hatte ihn 1945 beschlagnahmt, als Teil der Restitution für die von Deutschland verursachten Kriegsschäden. Die Rathenau-Erben bemühten sich bisher vergeblich um eine Rückgabe. Lediglich einen kleinen Teil der außenpolitisch relevanten Dokumente übergab Boris Jelzin im Jahre 1997 an Helmut Kohl.
1 Ernst von Salomon: Die Geächteten. Berlin 1931
2 Hubertus Prinz zu Löwenstein: Deutsche Geschichte. München 1976, S. 543
3 Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). de Gruyter, Berlin 1989, S. 586
4 Deutsche Gefahren und neue Ziele. In: Neue Freie Presse, 25.12.1913
5 An Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, 4.9.1914. in: Politische Briefe, S. 9-16
6Briefe an die Neue Zürcher Zeitung, 14.1.1919 und 8.1.1919. In: Walter Rathenau, Politische Briefe Berlin 1929, S. 230ff.
7 Rathenau, zitiert in: Gall, a.a.O., S. 215
8 Rathenau, zitiert in: Gall, a.a.O., S. 216
9 Rathenau, zitiert in: Gall, a.a.O., S. 213
10 Schölzel, a.a.O., S. 334
11 Schölzel a.a.O., S. 372
12 Stefan Zweig: Kurze Texte über historische Persönlichkeiten. https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/histpers/chap008.html
Literatur
1., Quellen
Gesammelte Schriften Walther Rathenaus sind in fünf Bänden im Jahre 1918 erschienen und digitalisiert unter https://de.wikisource.org/wiki/Walther_Rathenau ungekürzt und kostenlos abrufbar:
https://archive.org/details/gesammelteschrif01rathuoft
https://archive.org/details/gesammelteschri02rath
https://archive.org/details/gesammelteschrif03rathuoft
https://archive.org/details/gesammelteschri00rathgoog
https://archive.org/details/bub_gb_ewEYAQAAIAAJ/page/n5/mode/2up
Gesamtumfang: rund 3.000 Seiten
Gesammelte Reden (1924) sind ebenfalls abrufbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k65677n/f448.item.langDE
2., Darstellungen
Lothar Gall: Walther Rathenau. Porträt einer Epoche. München 2009
Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie. Paderborn 2006
Hierbei handelt es sich um eine Dissertation im Fach Neuere Geschichte auf sehr breiter Quellenbasis.
Weimarer Köpfe (E01) Walter Rathenau (1984), abrufbar unter: www.youtube.com/watch?v=XYxx-Ckd8uE
© Stefan Winckler