Johannes Gerster (CDU) war über 21 Jahre lang Bundestagsabgeordneter, Mitglied des wichtigen Haushaltsausschusses und innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Mindestens ebenso interessant ist seine Tätigkeit als Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem. Nicht zuletzt fühlt er sich, der schon in sehr jungen Jahren zum ersten Mal nach Israel kam, mit diesem Land tief verbunden: von 2006 bis 2010 war er Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
In seinem mittlerweile vergriffenen Erinnerungsband „Nicht angepasst“ (Ingelheim 2010) hat Gerster sein Leben Revue passieren lassen. Auch sein neues Buch „Typen und Mythen“ greift Lebenserfahrungen auf. Es kommt ihm hier noch stärker darauf an, Schlüsse („Merksätze“) aus zurückliegenden, oft anekdotenhaft geschilderten Ereignissen zu ziehen. Mit anderen Worten: es schreibt kein Politikwissenschaftler, sondern ein Politiker, der sich auch Jahre nach seinem Ausscheiden aus den Ämtern dem Volk verbunden fühlt und seine Sprache spricht.
Gerster bedauert, die heutige Politik sei „zu glatt, zu verwechselbar, zu wenig originell“ (S. 5). Er vermisst nicht nur die kantigen „Typen“ wie Herbert Wehner und Franz Josef Strauß in den Parlamenten (die die politischen Gegensätze zwischen den Fraktionen auf den Punkt brachten), sondern auch die innerparteiliche Konkurrenz: er selbst kandidierte in den 1970er Jahren wiederholt gegen „Parteifreunde“ um Posten wie den Kreisvorsitz in Mainz. Demgegenüber sind heute solche „Kampfabstimmungen“ verpönt, es wird vielmehr alles vorher im „Hinterzimmer“ vereinbart, und die Parteitage geraten zu Jubelveranstaltungen nach US-Vorbild: zur Schau gestellter Optimismus, minutenlanges Dauerklatschen. Wohl wahr! Nicht nur die Formen, sondern auch die Inhalte der großen Parteien seien erbärmlich: „Was waren das für Zeiten, als Generalsekretäre wie Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler die Union aus der programmatischen Erstarrung lösten, ihr eine neue Ausrichtung und ein markantes Profil verschafften! Heute wird die pragmatische Regierungspolitik von Angela Merkel als alternativlos bezeichnet und bei ständiger Krisenbewältigung der analytische und programmatische Verstand ausgeschaltet. Derweil trocknen CDU/CSU und SPD inhaltlich aus“ (S. 110f.). Was mahnt er an? „Die CDU braucht ein neues Grundsatzprogramm, aus dem die Substanz einer christlichen, sozialen, liberalen Volkspartei mit konservativen Elementen erkennbar wird und unverrückbare Grundwerte deutlich werden. Darüber hinaus braucht sie ein Handlungskonzept, aus dem die Menschen erkennen, was die CDU politisch konkret tun und verändern will. Diese Konzept muss sich von dem unterscheiden, was eine große oder andere Koalition tagespolitisch und häufig auf dem Wege des Kompromisses entscheidet. Menschen gewinnt man nur, wenn sie wissen, für was sie eintreten sollen. Krisenmanagement ohne programmatische Konturen, wohin der Weg führen soll, reicht nicht aus“ (S. 112). Dies gilt insbesondere für das Politikfeld Zuwanderung/Integration. Die Bürger müssen, so Gerster, mit ihren Sorgen und Ängsten ernst genommen werden.
Insgesamt ist das Büchlein, das vor allem in den ersten Kapiteln manche heitere Begebenheit zur Erhellung des Politikalltags aufführt, eine Fundgrube für jeden politisch Interessierten – und daher wertvoll. So erfährt der Leser von den Erfahrungen und Gefühlen eines Politikers, dem das Bundeskriminalamt Personenschutz verordnet hat, ebenso Kontrollen vor Wohnung und Büro, denn „in einem Logistikzentrum der Roten Armee Fraktion (RAF) in Köln entdeckte die Polizei ein umfängliches Dossier über mich, meine Frau und meine drei Kinder, über die Wohnungen und Büros in Mainz und Bonn bis hin zu unseren üblichen Wegen, Fahrten und Lebensgewohnheiten. Ich stand auf der Abschussliste der RAF, kam in die zweithöchste Gefähdungsstufe und war fortan nicht mehr allein“ (S. 68). Noch weit stärker war Gerster durch arabischen Terrorismus während seiner neun Jahre in Jerusalem bedroht. Nicht, dass er alleine ins Fadenkreuz geraten wäre – nein, es war die Bedrohungslage israelischer Bürger, die er und seine Frau unmittelbar kennenlernten, und die in der europäischen Berichterstattung m.E. kaum zum Ausdruck kam: „Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Oktober 2000 war in Jerusalem die Hölle los (...). In 30 Monaten gab es im Umkreis von 300 Metern rund um unser Wohnhaus 46 Bombenanschläge mit über 150 Toten und vielen hundert Schwerverletzten. (…) Wir (…) gingen wie alle Israelis äußerlich unberührt zur Tagesordnung über. Die Terroristen sollten unser Leben nicht bestimmen. (…) Angst war auch unser täglicher Begleiter. So sind wir in neun Jahren nicht ein einziges Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, denn diese waren ein beliebtes Angriffsziel von Selbstmordattentätern. (…) Meine Frau Regina wurde in der King George Street, 300 Meter von unserer Wohnung entfernt, Zeugin eines Bombenanschlags. Wäre sie drei Sekunden früher an der Explosionsstelle gewesen, wäre sie nicht Zeugin, sondern Opfer geworden“ (S. 94).
Besonders hervorzuheben ist Gersters Darstellung, wie er immer wieder israelische und arabische Verhandlungspartner zusammenführte – ein seltener Einblick in die Praxis der internationalen Beziehungen. Dies geschah oft in seiner Wohnung und im Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum, für dessen Bau er sich mit Geschick und Geduld eingesetzt hatte.
Insgesamt ist es wiederum ein sehr empfehlenswertes Buch von Johannes Gerster für breite Leserschichten geworden, das nicht zuletzt auch anregende, kenntnisreiche Einblicke in die politische Landschaft Israels gewährt.
Johannes Gerster: Typen und Mythen. Von Franz Josef Strauß und Herbert Wehner bis heute. Ingelheim 2017; ISBN 978-3-945782-23-1; 124 S.