Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

1923/2023 - Die „modernste Kirche Deutschlands“ wird 100 Jahre. St. Peter und Paul in Karlstein-Dettingen


Dettingen, zwischen Aschaffenburg und Hanau gelegen, ging am 27. Juni 1743 in die Geschichte ein. (1) Südlich der Ortschaft kam es zur Schlacht zwischen den Franzosen gegen Engländer, Hannoveraner und Österreicher im Österreichischen Erbfolgekrieg. Beteiligt waren rund 37.000 Mann auf Seiten der Koalition, denen etwa 45.000 französischen Soldaten gegenüber standen. Insgesamt waren rund 7.000 Gefallene, Verwundete und Vermisste zu beklagen. Darüber hinaus wurden die Getreidefelder am Kriegsschauplatz vernichtet, so dass eine Hungersnot folgte. Die Schlacht von Dettingen war das letzte Gefecht, an der ein englischer König – Georg II., zugleich Kurfürst von Hannover – persönlich teilnahm.
Den Sieg der drei Verbündeten verarbeitete Georg Friedrich Händel in seinem Dettinger Te Deum, einem der berühmten geistlichen Chorwerke des Barock. In England bürgerte sich der Begriff „Miracle on the Main“ ein.

 

Pfarrjubiläum 1923 – 2023: die neue Kirche

Dettingen, das seit 1975 mit Großwelzheim die Gemeinde Karlstein bildet, wird im Jahre 2023 meist aus einem anderen Grund erwähnt. Die katholische Pfarrkirche St. Peter und Paul ist genau 100 Jahre alt. Zwar gab es hier vorher schon die Kapelle St. Hippolyt, aber das Dorf wurde seelsorgerisch vom benachbarten Kleinostheim aus betreut. Seit 1914 wirkte ein Kaplan in Dettingen, und seit 1922 ein Pfarrer: Hugo Dümler (1889 bis 1950). Dümler setzte in einer wirtschaftlich zunehmend schwierigen Zeit den Bau der Kirche durch, denn die Kapelle war für den rasch anwachsenden Ort an der Eisenbahnlinie Frankfurt – Aschaffenburg allmählich zu klein geworden. Dettingen hatte etwa 1.300 fast ausschließlich katholische Einwohner.

Das Gotteshaus erscheint äußerlich festungsartig massiv. Das Wort von einer „Kirchenburg“ wäre nicht falsch, was durch den monumentalen Portalturm unterstrichen wird. An seiner Spitze verläuft zusätzlich eine Reihe von dreieckigen Zinnen. Der rötliche Sandstein aus der Gegend um Miltenberg erscheint den Einheimischen vertraut, denn er erinnert an Schloss Johannisburg (um 1610) und die Herz-Jesu-Kirche in Aschaffenburg (1929) sowie an das Kurfürstliche Schloss in Mainz.Auffallend auch die beiden lebensgroßen Sandsteinfiguren der Patrone Petrus und Paulus, geschaffen von dem Frankfurter Bildhauer Paul Seiler (1873 bis 1934) wenige Meter vor dem Portal, ferner die Löwenköpfe und kreuzförmigen Öffner an der Eingangstür. 

Die Architekten Dominikus Böhm (1880 bis 1955) und Martin Weber (1890 bis 1941), von Dümler ausgewählt, kamen von der Bau- und Kunstgewerbeschule Offenbach (heute: Hochschule für Gestaltung). Zusammen betrieben sie ebendort das Atelier für Kirchenbaukunst. Die Dettinger Kirche ähnelt einer Notkirche Böhms und Webers in Offenbach aus dem Jahre 1919 (St. Josef), die im Jahre 1929 durch einen dauerhaften Bau ersetzt und nach Kriegszerstörungen 1947 endgültig abgerissen wurde. Dümler hatte demnach bewusst zwei moderne Kirchenarchitekten herangezogen, die sich nicht mehr an Neogotik und Neobarock orientierten. In ihrem Beitrag zur Einweihungsschrift bekannten sich beide zum „Christozentrischen Bewegung unserer Zeit“: Alles soll auf den Hochaltar zulaufen, nichts soll die Gläubigen ablenken, auch keine bunten Fenster oder aufwändige Seitenaltäre. Diesen Grundsatz wandten sie auch bei der Erweiterung der Kapelle in Großwelzheim zur Pfarrkirche St. Bonifazius an. Ein Konfliktpunkt mit Ewald ergab sich, da seine Malereien an den Seitenwänden recht stark den Blick auf sich ziehen und damit eine Eigenwirkung entfalten. Dennoch würdigen sie ihn als „gleichgesinnten, außerordentlich wertvollen Mitarbeiter“ (2), während sich Ewald seinerseits bedankte, jedenfalls in seinem Rückblick von 1967. (3)

 

 Eine außergewöhnliche Ausstattung

 Das Innere wirkt hell und überraschend „leicht“. Das Besondere, abgesehen von den unverkleideten Stützen und Pfeilern, an der Kirche ist die Ausmalung: Die 14 Wandgemälde vom Kreuzweg Christi werden oft dem Expressionismus zugeordnet – selten genug, dass sich Expressionisten religiöser Inhalte annahmen! Sie sind 2,80 Meter hoch und bis zu vier Meter breit. Sie entstanden „secco“, also auf trockenem Putz, im Gegensatz zur Fresco-Technik. Das auffallend große Altarbild von fünf mal sechs Metern zeigt die Kreuzigung.


Dazu schrieb der Würzburger Kunsthistoriker Prof. Urban Rapp, zugleich Pater des Benediktinerordens: „Im Hochaltarbild ist der Tod Christi ohne Verniedlichung mit aller Not, Verlassenheit, Finsternis und Entsetzen dargestellt. Die Bewegung der Gestalten und alle Farbigkeit sind Träger dieser Aussage. Christus ist in seinem furchtbaren Sterben weit ausgespannt und umfasst die Welt“. (4)

Links davon eine Abbildung der Verkündigung, rechts die Darstellung von Christi Geburt. Michael Pfeifer, der wohl beste Kenner von St. Peter und Paul, hebt hervor, dass ein Auferstehungsbild fehlt.
Der Künstler Reinhold Ewald (1890 bis 1974) lehrte an der Zeichenakademie seiner Heimatstadt Hanau, wurde nach 1933 trotz seiner Anpassungsversuche entlassen und als „entarteter Künstler“ verfemt, bis er nach 1945 wieder in der Zeichenakademie angestellt wurde. Auch ihn hatte der Kunstkenner Dümler mit Bedacht – und im Alleingang! - ausgewählt. Außergewöhnlich für die damalige, vorkonziliare Zeit war, dass er mit Ewald einen Protestanten beauftragte, der zuvor noch kein religiös motiviertes Werk veröffentlicht hatte! Dümler lernte die christliche Kunstgeschichte an der Würzburger Universität durch die Ideen des verstorbenen Theologen Herman Schell kennen, und besuchte häufig Kunstausstellungen, auch jene der Darmstädter Sezession, der Ewald als Mitglied angehörte. In dieser Künstlervereinigung wirkten außer Expressionisten auch andere Vertreter der seinerzeit avantgardistischen Kunst mit: Sie experimentierten vom Kubismus über den Dadaismus bis zur Neuen Sachlichkeit. Bei aller stilistischer Vielfalt wollte die Darmstädter Sezession „radikal“ und „antibürgerlich“ sein, um eine „neue geistige Werterzeugung“ anzugehen.(5) Andererseits war Ewald mehr als nur ein Kenner der Alten Meister – so ist sein Altar-Tryptichon in Dettingen vom Isenheimer Altar Matthias Grünewalds beeinflusst. Zudem hatte er die Technik der Secco- und Fresco-Malerei auf seiner Italien-Reise 1913 studieren können, bevor er am Ersten Weltkrieg teilnehmen musste.
Während der Kirchenbau selbst kaum auf Widerspruch stieß, setzte die bischöfliche Baubehörde Änderungen an den Fresken durch, die der Künstler allerdings in den späten 1960er Jahren rückgängig machen konnte. Auch die Dorfbevölkerung lehnte die in ihrem Stil so ungewohnten Darstellungen anfangs heftig ab, dabei sicher auch von der örtlichen Presse beeinflusst, die sogar den Vorwurf der Gotteslästerung äußerte. (6)

Eine Besonderheit sind die „Lichtflecken“ auf dem Mittelgang, die das Sonnenlicht während der Sommersonnenwende hervorruft. Mit anderen Worten: Die kleinen, dreieckigen Fenster sind im Obergaden exakt so platziert, dass die Reflexion der Sonneneinstrahlung auf dem Boden als Weg erscheinen, der den Besucher vom Eingang zum Altar führt, gleichsam als Weg der Erleuchtung. (7)
Ursprünglich war das Kircheninnere in Teilen bunt ausgemalt: graublau in den Wand- und Pfeilersockeln, ocker im offenen Dachstuhl, goldfarben im Chorbogen. Es ist bereits nach drei Jahren hellgrau übertüncht worden.
Der Kunsthistoriker Hugo Schnell, Experte für katholische Kirchenbauten in Bayern, schrieb, St. Peter und Paul sei die erste moderne Kirche Deutschlands. Michael Pfeifer, Referent für liturgische Bildung beim Bistum Würzburg, übernimmt diese Bewertung und stuft sie als  „einzigartiges Gesamtkunstwerk des deutschen Expressionismus“ ein.

Kirchenbau in Krisenzeiten

Wie konnte die Kirche in der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gebaut werden? Am 12. März 1922 fiel die endgültige Entscheidung zugunsten des Kirchenbaus im Bauausschuss der Gemeinde. Am 11. April 1922 genehmigte die Oberste Baubehörde in München das Vorhaben. Im gleichen Monat sammelte Pfarrer Dümler, von Haus zu Haus gehend, Geld. Am 8. Mai 1922 kam das erste Schiff auf dem Main mit Steinen an, am 13. Mai das zweite. Tags darauf vergab der Bauausschuss die Erd- und Maurerarbeiten an den ortsansässigen Maurermeister Stock. Am 25. Juni 1922 ging eine Prozession von der Hippolytkirche zum Bauplatz in der heutigen Luitpoldstraße, um den Grundstein in Anwesenheit von Domprobst Thaddäus Stahler aus Würzburg zu legen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass sich das ganze Dorf und manche Auswärtige in Festtagskleidung auf den Weg begaben. Am 31. Oktober trafen die Kirchenglocken ein. Am Ostermontag, den 2. April 1923 erläuterte Pfarrer Dümler, dass über die Haussammlungen 400.000 Mark eingenommen worden seien, zusätzlich 50.000 Mark über den Klingelbeutel. Acht Tage später ertönte erstmals die Orgel.
Am 1. Juli 1923 wurde die Kirche in Anwesenheit des Bamberger Weihbischofs Adam Senger (als Vertreter  des Würzburger Bischofs) konsekriert, d.h. geweiht.
Der Kirchenbau fiel in eine Zeit des sich steigernden Währungsverfalls. Während der Planung und frühen Bauphase 1922 schien die Konjunktur jedoch noch gut zu laufen. Immerhin konnte die Kirche gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch der Hyperinflation fertiggestellt werden, als Waren für den täglichen (Ernährungs-)Bedarf Milliarden Mark kosteten. Offenbar kamen zum Spendenaufkommen auch noch viele freiwillige Helfer aus dem Dorf hinzu, die auf eine Entlohnung verzichteten.
Das Jubiläumsjahr ist mit zahlreichen Veranstaltungen verbunden. Während der Fastenzeit 2023 war der Innenraum abends in verschiedenen Farben beleuchtet.
Zusammen mit diesen Lichtinstallationen fanden an den Fastensonntagen Aufführungen geistlicher Musik statt. 

Der Kirchenschatz war am 7. Mai 2023 präsentiert worden. Darüber hinaus gab es Kreuzwegandachten und Vortragsveranstaltungen. 
Ein Jahr zuvor stand eine kleine Feier an: Frau Waltrud Emge (93 Jahre) ist seit 1954 Orgelspielerin in St. Peter und Paul. Sie erhielt in Anerkennung ihres ehrenamtlichen Engagements – seit 80 Jahren im Einsatz für die Pfarrgemeinde! – das Ehrenzeichen des Bayerischen Ministerpräsidenten. 

Wer Dettingen besucht, sei auf das wenige Kilometer westlich gelegene Seligenstadt mit seiner ehemaligen Benediktiner-Abtei und den dazu gehörigen Kräutergärten sowie der Einhard-Basilika St. Marcellinus und Petrus hingewiesen (Bild rechts: Blick von Karlstein-Großwelzheim über den Main nach Seligenstadt).

 

1   Ausführlich: Steiner, Johann Wilhelm Christian: Beschreibung der Schlacht bei Dettingen am Main (27. Juni 1743). Darmstadt 1834. Online: 'Steiner, Johann Wilhelm Christian: Beschreibung der Schlacht bei Dettingen am Main (27. Juni 1743)', Bild 5 von 34 | MDZ (digitale-sammlungen.de)
2 Vgl. Der Bau und seine innere Ausgestaltung – Dettinger Passion (dettinger-passion.de)
3 Vgl. Die Pfarrkirche aus der Sicht des Malers – Dettinger Passion (dettinger-passion.de)
4 Rapp, Urban, a.a.O.                                                                                                                       
5 Vgl. Darmstädter Sezession – Wikipedia
6 Vgl. Die Sehnsucht des kosmischen Raumes – Michael Pfeifer (michael-pfeifer.de)
7 Vgl. Der Lichtweg in St. Peter und Paul – Dettinger Passion (dettinger-passion.de)


Literatur

Dettinger Passion (dettinger-passion.de)
Die Webseite Michael Pfeifers, der sich eingehend und kenntnisreich mit dem Dettinger Kirchenbau auseinandersetzte. Er ist Theologe, Kirchenmusiker und Typograf. Sie enthält außer Aufsätzen Pfeifers auch den Beitrag Böhms und Webers aus der Festschrift zur Einweihung (1923), die Kreuzwegdarstellungen Bild für Bild und Literaturhinweise.
Huhn, Doris: Das ganze Dorf war auf den Beinen. Vor 100 Jahren: Am 25. Juni 1922 war Grundsteinlegung für die Dettinger Pfarrkirche St. Peter und Paul – 1923 eingeweiht. In: Main-Echo, 21.6.2022, online: Das ganze Dorf war auf den Beinen (main-echo.de)
Jöckle, Clemens: St. Peter und Paul, St. Hippolyt. DETTINGEN AM MAIN, Regensburg 1995
Rapp, Pater Urban: Die Dettinger Pfarrkirche Peter und Paul – ein Dokument des Expressionismus. In: Unser Kahlgrund. Heimatjahrbuch 1974, Alzenau 1973, S. 94f.
Red: Ein expressionistisches Unikat. Deutschlands erster moderner Kirchenbau steht in Dettingen am Main. In: Würzburger katholisches Sonntagsblatt, Nr. 9/2023, S. 33.
Steiner, Johann Wilhelm Christian: Beschreibung der Schlacht bei Dettingen am Main (27. Juni 1743)', Bild 5 von 34 | MDZ (digitale-sammlungen.de)
Straße der Moderne - Karlstein am Main-Dettingen | St. Peter und Paul (strasse-der-moderne.de)

 

© Stefan Winckler

 

E-Mail
Anruf
Infos