Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Die nahezu unbemerkte Fatwa – und der absichtlich ignorierte Antisemitismus

Der Begriff „Fatwa“ (muslimisches Rechtsgutachten) war nur Islam-Experten bekannt, ehe Ayatollah Khomeini im Jahre 1989 verlautbarte: „Ich setze das stolze Volk der Muslime in aller Welt davon in Kenntnis, dass der Autor des Buches ,Die satanischen Verse' - das sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet - und alle an seiner Publikation Beteiligten zum Tode verurteilt sind."
Der Autor Salman Rushdie war anschließend gezwungen, sich für Jahre in häufig wechselnden Verstecken aufzuhalten, ehe ihn ein Islamist im Jahre 2022 durch einen Messerangriff dauerhaft schwer verletzte.

Die Fatwa gegen Israel anlässlich des Gazakrieges

Am 28. März 2025 veröffentlichten das Komitee für Idschtihād (1) und die Internationale Union Muslimischer Gelehrter (engl. abgekürzt: IUMS) eine Fatwa mit folgendem Inhalt (2):
Über 50.000 Märtyrer habe der „systematischen Völkermord“ im Gazastreifen gefordert. „Wir bekräftigen, dass es für alle Muslime und muslimischen Nationen verpflichtend ist, den Dschihad gegen das zionistische Gebilde und alle, die mit ihm in den besetzten Gebieten kollaborieren, zu führen – seien es Söldner oder Soldaten jeglicher Nation. Militärische Interventionen sowie die Versorgung der Mudschaheddin mit Waffen, Fachwissen und Geheimdienstinformationen sind eine bindende Pflicht (…). Der Dschihad gegen die Besatzung ist eine individuelle Verpflichtung  (fard'ayn) für jeden fähigen Muslim“. Sich zu verweigern, hieße Allah zu verraten. 
Der Feind sei zu boykottieren. Arabische und muslimische Staaten sollten baldmöglichst ein Militärbündnis zu gründen. Die finanzielle Unterstützung des Dschihad sei Pflicht eines jeden dazu fähigen Muslim. Arabische Staaten hätten bestehende Beziehungen zu Israel abzubrechen. Der Anteil der Wissenschaftler bestehe darin, zum Dschihad aufzurufen und Druck auf Staaten, Armeen etc. auszuüben. Druck, ja sogar „alle verfügbaren Mittel“ müssten auch die US-amerikanischen Muslime anwenden. „Das Komitee fordert die Muslime dringend auf, weiterhin Unternehmen zu boykottieren, die die zionistische Besatzung unterstützen, insbesondere jene, deren Regierungen sie mit Waffen und politischer Unterstützung versorgen“.
Das Komitee ruft abschließend nochmals zur Einheit der Muslime auf und dankt allen, „die die Menschen in Gaza unterstützen“.
Die einzelnen Aussagen werden durch Suren aus dem Koran ergänzt.
Der Unterzeichner Ali al-Qaradaghi (3) ist Generalsekretär der Internationalen Union Muslimischer Gelehrter mit Sitz in Doha/Katar (gegründet in Dublin), vielfach vernetzt mit anderen islamistischen Organisationen und in den Scharia Aufsichtsräten verschiedener Banken wirkend. Die Internationale Union Muslimischer Gelehrter steht „Wissenschaftlern offen, die an Scharia-Universitäten und Fakultäten für Islamwissenschaften verschiedener Universitäten studiert haben oder über einen entsprechenden Hintergrund verfügen“. (4)

Die Reaktion der Deutsch-Israelischen Gesellschaft  

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft befürchtet „unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland“, da „jeder fähige Muslim“ aufgefordert ist. Zur Relevanz: Hierzulande habe die Internationale Union muslimischer Gelehrter zu weit über tausend Moscheen „eine Beziehung, die ihre Lehrautorität beinhaltet“. Daher müssten die Bundesregierung und die Landesregierungen „von allen Islamverbänden in Deutschland, allen voran der DITIB, der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG), der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) und seinem Islamrat wie dem Zentralrat der Muslime verlangen, diese Fatwa als unislamisch zu verurteilen. (Die Genannten hatten in der Vergangenheit alle positive Beziehungen zur IUMS). 
Organisationen, die diese Fatwa nicht öffentlich verurteilen, sind eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Solche Vereinigungen richten sich mit ihrer Verweigerung unmittelbar gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz).“ (5)

 

Wie fielen die Reaktionen auf den für Muslime als obligatorisch bezeichneten Gewalt- und Boykottaufruf aus?

Von muslimischen Verbänden war keine öffentliche Distanzierung zu vernehmen.
Es war trotz des Gefahrenpotentials wenig in den „Mainstream-Medien“ dazu zu erfahren, wohl aber in Medien, die sich mit Israel verbunden fühlen (Mena Watch, Israel Heute). Allerdings zeigte WELT TV am 15. April 2025 eine Stellungnahme des Chefredakteurs der Jüdischen Allgemeine, Philipp Peyman Engel, in dem er das Desinteresse der deutschen Medien rügte.( 6)     

Häufig wiederkehrende journalistische Fehler

Engel kritisierte bereits am 25. Juni 2024 im Interview der „Welt“ gegenüber Ulf Poschardt,  „nicht wenige unserer Journalistenkollegen“ seien „bei der Berichterstattung über das Thema Judenhass, Israel und Nahost ein Totalausfall“. Konkret: „Warum spricht die übergroße Mehrheit unserer Zunft von ,propalästinensischen' Protesten, wenn an der FU Berlin Israel- und Judenhasser den Campus stürmen, zur Auslöschung Israels aufrufen, eine neue Terrorwelle gegen Juden fordern, andere Menschen mit Hamas-Dreiecken markieren und bedrohen, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung begehen?“
Eine solche Aussage hat Seltenheitswert, weil Journalisten nur selten Kollegenkritik üben.
Engel weiter:
„Sind Demonstrationen der Neonazi-Partei Der Dritte Weg ,prodeutsch'? Und würden sich unsere Journalistenkollegen auch hinter ,propalästinensische' Proteste dieser Art stellen, wenn es nicht Demonstranten aus der linksextremen und aus der muslimischen Community wären, sondern Rechtsextreme, die die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen? Niemals. Zu Recht“.
Die Jüdische Allgemeine, so Engel, werde „überschwemmt“ mit „Vorwürfen aus dem muslimischen und linksextremen Milieu“, sie wäre rassistisch und werbe für einen Völkermord in Gaza. Die Urheber solcher Lügen und Beleidigungen brächten „massenhaft Aussagen, die Hass und Judenhass pur transportierten“.  Drohungen wie z.B. „Ich weiß, wo du wohnst und hack dir die Hände ab. An deinen Händen klebt Blut. Kindermörder“ seien nach dem 7. Oktober 2023 sehr viel häufiger geworden. In Bezug auf „Alltagsjudenhass“ - gegen Menschen auf der Straße mit Kippa und jüdischen Symbolen – müsse festgestellt werden: „Es sind Islamisten, säkulare Muslime und Linksextreme, die uns massiv bedrohen, die uns das Leben zur Hölle machen“. Jüdische Deutsche würden eine Emigration erwägen, insbesondere Berlin sei „gekippt“, ähnlich wie mehrere Städte im Ruhrgebiet.
Engel: „Wir als Gesellschaft – gemeint sind wir alle – und viele politische Entscheidungsträger sowie Journalisten habe viel zu lange weggeguckt. Judenhass ,von rechts' wird sofort verurteilt. Zu Recht! Aber Judenhass unter muslimischen Deutschen? Bloß nicht ansprechen, das ist unangenehm, da könnte man sich den Vorwurf einhandeln, ,rechts' zu sein – so die Devise. Die Leidtragenden sind wir. Es muss doch möglich sein, offenkundige Probleme anzusprechen. Und wir haben ein massives Problem in der Benennung von muslimischen und linken Judenhassern“, so Engel.
Als Poschardt einwirft, der „gesamte politische Vorraum roter und grüner Parteien“ sei „voll mit Sympathisanten des auch radikalen Palästinensertums, siehe Fridays for Future oder Amnesty International“, antwortet Peyman Engel: „Das „Nie wieder!“ von links ist natürlich allzu oft heuchlerisch und verlogen. Wenn Bundespräsident Steinmeier am Sonntag betroffen „Nie wieder!“ sagt und werktags im Namen aller Deutschen den größten Judenhassern und Islamisten im Iran zum 40. Jahrestag ihrer Revolution gratuliert, Türkeis (sic!) Präsidenten Erdogan als „werten Freund“ bezeichnet, obwohl dieser lupenreiner Antisemit ist und die Hamas als Partner und Widerstandsorganisation bezeichnet sowie die Massaker des 7. Oktobers relativiert, sagt das alles. Die Liste ließe sich übrigens mit vielen Beispielen fortsetzen – auch um viele Politiker wie [Ex-)Kulturstaatsministerin Claudia Roth (...). Erfreulich: Die Union und die FDP sind stabil. Sehr stabil. Sie sind bei diesen Themen die Stimmen der Vernunft“. (7)

Methoden anti-israelischer arabischer Propaganda

Wir fügen den Aussagen Engels hinzu, dass die Hamas propagandistische Erfolge durch verfälschte, überhöhte Opferangaben erzielt: die Fatwa übernimmt die Behauptung von 50.000 Toten.  Fast schon traditionell sind emotionalisierende Bilder, nicht selten mit einer Täter-Opfer-Umkehr, Teil der arabischen Anti-Israel-PR. Hier fehlt es immer wieder an journalistischer Entlarvung, wer denn der Angreifer war, wenn Schusswaffenopfer im Westjordanland („Israelische Armee tötet...“) in den Nachrichten benannt werden. Siehe dazu zahlreiche Beiträge in der verbands-unabhängigen Monatszeitung Jüdischen Rundschau (juedischerundschau.de), israelnetz.com und mena-watch.com. 

Fallbeispiel vom April 2025: Anti-israelische Krawalle an der Humboldt-Uni

 

Am 16. April 2025 besetzten anti-israelische Demonstranten den Emil-Fischer-Hörsaal der Humboldt-Universität Berlin. Aus herausgerissenen Sitzbänken errichteten sie Barrikaden. Der Raum musste von rund 350 Polizisten geräumt werden.  WELT TV bemerkte am 17. April d. J. , er sei verwüstet worden und auf Monate unbenutzbar. Zumindest ein Teil der Besetzer verwendete Symbole der Hamas wie das rote Dreieck, und schmierte "From the river to the sea - Palestine will be free", "Revolution", "Zionismus ist Faschismus" neben weiteren Parolen an Fenster und Wände. Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung wurden eingeleitet.  
Den ausdrücklich in den Berichten benannten Delikten zum Trotz verwendeten deutsche Journalisten den oben bemängelten Begriff "pro-palästinensisch". Wir finden die Zuschreibung "pro-palästinensisch" u.a. bei faz.net, welt.de, handelsblatt.com, tagesschau.de., zdf.de, n-tv.de. Von einem "Pro-Palästina-Protest" schrieb die Berliner Zeitung. Die taz sah "Aktivist:innen" am Werk.  So bestätigte sich Engels Kritik einmal mehr. 


1  I. bedeutet: Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung in der islamischen Rechtstheorie. Vgl. Wikipedia:  Idschtihād. Insofern ist von einer eher großen Bedeutung der Fatwa auszugehen.
2   https://iumsonline.org/en/ContentDetails.aspx?ID=38846
3   https://de.wikipedia.org/wiki/Ali_al-Qaradaghi
4   https://www.islamopediaonline.org/international-union-muslim-scholars-dublin-ireland/
5   DIG alarmiert: Neue Muslimbruder-Fatwa ist eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheitslage in Deutschland - Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V.
6   https://www.youtube.com/watch?v=e_kaZhH7-a0
7 https://www.welt.de/politik/deutschland/article252107442/Juedische-Allgemeine-Chef-Es-sind-Islamisten-saekulare-Muslime-und-Linksextreme-die-uns-das-Leben-zur-Hoelle-machen.html
 

© Stefan Winckler





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