Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

 Vor 200 Jahren legte Kaiser Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder


1., Das Dokument


Am Morgen des 6. August 1806 verlas der Herold des Reiches vor der Kirche zu den neun Engeln in Wien einen Urkundentext, der im Namen von Kaiser Franz II. die formalrechtliche Konsequenz aus den Friedensbestimmungen von Pressburg und dem übertritt maßgeblicher Fürsten zu Napoleons „Rheinbund“ am 12. Juli d. J. zog:
„(…) Bei der hierdurch vollendeten Überzeugung von der gänzlichen Unmöglichkeit, die Pflichten Unseres kaiserlichen Amtes länger zu erfüllen, sind Wir es Unseren Grundsätzen und Unserer Würde schuldig, auf eine Krone zu verzichten, welche nur so lange Werth in Unseren Augen haben konnte, als Wir dem, von Kurfürsten, Fürsten und Ständen und den übrigen Angehörigen des deutschen Reiches Uns bezeigten Zutrauen zu entsprechen, und dem übernommenen Obliegenheiten ein Genüge zu leisten im Stande waren. Wir erklären demnach durch Gegenwärtiges, dass Wir das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reiches gebunden hat, als gelöst ansehen, daß Wir das reichsoberhauptliche Amt und Würde (…) als erloschen und Uns dadurch von allen übernommenen Pflichten gegen das Deutsche Reich losgezählt betrachten und die wegen desselben bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung, wie hiermit geschieht, niederlegen. Wir entbinden zugleich Kurfürsten, Fürsten, und Stände  und alle Reichsangehörigen insbesondere auch die Mitglieder der höchsten Reichsgerichte und die übrige Reichsdienerschaft von ihren Pflichten womit sie an Uns, als das gesetzliche Oberhaupt des Reiches, durch die Constitution gebunden waren (…)  (1)
Diese Sterbeurkunde des alten Reiches hatte Graf Stadion entworfen, nachdem Napoleon Franz II. unter Androhung militärischer Gewalt zur Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone gezwungen hatte.
Vorausgegangen war 1803 die Säkularisierung der geistlichen Fürstentümer und die Aufhebung der Klöster. Reichsunmittelbare Städte verloren ihre Selbständigkeit (Mediatisierung) und sanken zu Landgemeinden mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen herab, die viel Aufträge der bisherigen Residenten entbehren mussten. So verstaubt und zukunftsunfähig die Vielzahl an Territorien („Flickenteppich“) auch war, so bedeutete die Säkularisierung oft eine Verschleuderung kirchlichen Eigentums durch die neue Obrigkeit, eine mangende Pflege von Kunstgegenständen und nicht zuletzt Probleme, den neuen Untertanen die Schulbildung zu vermitteln, die der Klerus seit Jahrhunderten in seiner Hand hatte.
Die Bedeutung des Reichs wurde 1804 mit der Krönung Napoleons zum Kaiser der Franzosen und der Proklamation des Kaisertums Österreichs (Franz versuchte, mit Napoleon gleichrangig zu bleiben) weiter untergraben. Der Tod des Reiches wartete eigentlich nur noch darauf, amtlich bekundet zu werden.


2., Begrifflichkeit und Wesen des Reiches


Zwar war die Bezeichnung „deutsches Königreich“ bzw. „Königreich der Deutschen“ (regnum teutoni[or]um) 925 erstmals aufgetreten. Doch war mit der Kaiserkrönung Otto des Großen 962  („Imperator Romanorum“ in seiner Urkunde von 976) durch papst Johannes XXII. Ein übernationaler Aspekt hinzugetreten: der Charakter des Reiches als Universalmonarchie in Nachfolge des Imperium Romanum und in Fortsetzung des Kaisertums Karls des Großen (Translatio Imperii) als höchste weltliche Macht auf Erden. Das bedeutete auch, dass sich der Kaiser als gleichrangig mit dem Papst, der höchsten geistlichen Instanz, erachtete, dass sein Reich gottesunmittelbar und erhaben war. So war 1157 erstmals in einer Urkunde Friedrich Barbarossas von „Sacrum Imperii“ („Geheiligtes Reich“) die Rede. 1243 wurde „Sacrum Imperium Romanum“ offiziell. Man beachte: „sacrum“, nicht „sanctum“ („heilig“) im Original. Der Zusatz „nationis germaniae“ („deutscher Nation“) ist erstmals 1486 in einem Reichsgesetz nachgewiesen und wurde seit dem 16. Jahrhundert offiziell. Zweck des Reiches war nicht Ausdehnung und Machtstreben, sondern Schutz des Rechts und Bewahrung des Friedens. So war das Alte Reich auch praktisch zum Angriff unfähig, denn die dafür erforderlichen Massenheere sind ein Mittel der Nationalstaaten mit allgemeiner Wehrpflicht – Stichwort Französische Revolution und Napoleon. Vielmehr sollte das reich die Machtgier eindämmen, die Untertanen vor Fürstenwillkür, die kleinen Reichsstände vor den großen Ständen schützen. Ein christlicher Ansatz! Doch weil es ein Himmelreich auf Erden nicht geben kann (denn wer es anstrebt, schafft meist eine Hölle), waren die hehren Ansprüche oft nur ungenügend verwirklicht worden. Vom stolzen Kaisertum entwickelte es sich zum Verbund aus Kaiser und Reichsständen, nachdem schon der „Apulier“ Friedrich II. 1220 Zugeständnisse an die Fürsten machen musste, damit sie ihn (bzw. seinen Sohn) zum König wählen.
Eine Verbindung aus englischen Verfassungsgrundzügen und dem Wesen des Reiches strebte Freiherr vom und zum Stein im frühen 19. Jahrhundert an, ohne sich gegen die auf ihrer Souveränität bestehenden „35 kleinen Despoten“ der Landesfürsten durchsetzen zu können.


3., Vergangenheit und Gegenwart


Einige Bücher über das Alte Reich sind 2006 neu erschienen. Vor allem war das Reich durch ausschließlich ihm gewidmete, große Doppel-Ausstellung in Magdeburg und in Berlin von August bis Dezember 2008 ins Gespräch gekommen:  Wikipedia schrieb von 440 000 Besuchern, so dass dies die erfolgreiche Ausstellung über Geschichte seit der Preußen-Ausstellung von 1981 war.
Die Kenntnis – nicht die Idealisierung durch die Romantik – des Heiligen Römischen Reiches hilft, neben der Geschichte der deutschen Lande auch die Vergangenheit der benachbarten mitteleuropäischen Regionen im Westen, Süden und Osten zu verstehen. Dort haben Deutsche und andere Völker meist gemeinsam, mit den gleichen christlichen Werten, Kultur- und Wirtschaftsgut geschaffen. Völkerverständigung ergibt sich demnach nicht aus der Umsetzung von EU-Richtlinien, sondern aus verbindender geschichtlicher Vergangenheit – wie es aus dem Wirken der geistlichen Ritterorden oder dem kaisertreuen Ghibellinen und weißen Guelfen – allen voran Dante – ersichtlich ist.


1   Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke: Geschichte in Quellen. Bd.4: Amerikanische und Französische Revolution. München 1981, S. 550f.


Literaturhinweise


Karl Otmar von Aretin: Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität. Zugl.: Habilitationsschrift. Wiesbaden 1967.
Klaus Herbus/Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich – Schauplatz einer tausendjährigen Geschichte (843-1806): Köln, Weimar: Böhlau 2005.
Hubertus Prinz zu Löwenstein: Deutsche Geschichte. München: F.A, Herbig, 1976
Mathias Puhle/Claus-Peter Hasse: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806. Von Otto de, Großen bis zum Ausgang des Mittelalters. Katalog- und Essayband zur 29. Ausstellung des Europarates. Dresden 2006.
Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Heilig – Römisch - Deutsch: das Reich im mittelalterlichen Europa. Dresden 2006
Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. München 1806.
© Stefan Winckler



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