Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Eine außergewöhnliche Theater- und Filmkarriere: Paul Muni zum 125. Geburtstag

In seinem aufschlussreichen Werk „Die Welt von gestern“ beschreibt Stefan Zweig den wertvollen Beitrag jüdischer Bürger für das Kaisertum Österreich und v.a. für die Stadt Wien. Sie wussten zu schätzen, dass sie seit 1867 gleichberechtigt waren, und gaben dem geliebten Wien etwas zurück, was das christliche Bürgertum, der Adel und der Kaiserhof nicht leisten wollten oder konnten. So war laut Zweig rund 90 Prozent dessen, was als Wiener Kultur des 19. Jahrhunderts gilt, „eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte oder sogar schon selbst geschaffene Kultur“ (Zweig, ebd., S. 44).

Ähnlich dürfte es sich mit der Leistung von Juden europäischer Herkunft in Amerika verhalten haben: Sie kamen in ein Land, das ihnen Aufstiegsmöglichkeiten bot, ungeachtet von Stand und Religion. Im Gegensatz zu Russland und anderen Teilen des östlichen Europas gab es in den Vereinigten Staaten keine Pogrome oder antijüdische Gesetze. So identifizierten sich jüdische Einwanderer mit den USA und erlangten aufgrund ihres Talents und Fleißes auch in der Theater- und Filmszene eine erhebliche Bedeutung. Aus Anlass seines 125. Geburtstages sollen hier Karriere und Einstellung des Schauspielers Paul Muni beschrieben werden.

Jugend und Aufstieg

Der jiddische Muttersprachler Muni wurde am 22. September 1895 in Lemberg (Österreichisch Galizien; heute: Lwiw) unter dem Namen Frederich Meshilem Meier Weisenfreund geboren. Mehr ein Viertel der etwa 160.000 Einwohner war jüdisch, die Hälfte polnisch. Jüdisches Leben lässt sich dort seit dem Mittelalter nachweisen; um 1900 hatte sich sowohl eine orthodoxe wie auch eine liberale Gemeinde herausgebildet, die beide strikt getrennt voneinander lebten. In der mitteleuropäisch geprägten Stadt gab es vor dem Ersten Weltkrieg kaum Nationalitätenstreit; im übrigen stammt von Kaiser Franz Joseph der Satz: „Ich dulde keine Judenhetze in meinem Reiche. Jede Antisemitismusbewegung muß sofort in ihrem Keime erstickt werden (... )“.

Dennoch wanderte die Familie 1902 nach Amerika aus. Sie ließ sich in Chicago nieder. Dem elterlichen Beispiel folgend, wurde Muni Schauspieler: bis ins 32. Lebensjahr hinein trat er ausschließlich in jiddischen Bühnenstücken auf. Seine schauspielerischen Fähigkeiten, oft unterstützt durch eine aufwendige Maske, müssen schon im Kindesalter hervorragend gewesen sein – so spielte er mit zwölf Jahren einen 80-Jährigen: das war seine erste Bühnenrolle. 1921 heiratete er eine Kollegin vom Jiddischen Theater, Bella Finkel, mit der er bis zu seinem Tode zusammen blieb. Nachdem Muni 1925 als zweitbester Darsteller nach Ludwig Satz (jiddischer Komiker, auch er ein gebürtiger Lemberger) bezeichnet wurde, gelang ihm ein langfristiges Engagement am Broadway, und schon bald der „Sprung“ nach Hollywood.

Charakterdarsteller in Spielfilmen

Für die Darstellung eines Mörders in seinem ersten Film „The Valiant“ (1929) erhielt er eine Oscar-Nominierung. In „Seven Faces“ (1929) stellte er sieben unterschiedliche Charaktere dar, beginnend mit einem alten Aufseher im Wachsfigurenkabinett, gefolgt von Napoleon, Franz Schubert, einem Afrikaner, einem Cockney-Londoner u.a. Beide Streifen gehören zu den frühen Tonfilmen.

Kommerzieller Erfolg war ihm erst mit „Scarface“ (1930 gedreht, 1932 aufgeführt) beschieden, einem der ersten stilprägenden Gangsterfilme. Muni überragte in der Hauptrolle als italoamerikanischer Verbrecherboss, so dass Filmstar Al Pacino noch 1983 sagen konnte, Muni sei ihm ein Vorbild, jedenfalls was seine Hauptrolle in der Neuverfilmung von „Scarface“ anginge. 1932 folgte mit „Jagd auf James A.“ der nächste Film – über einen entflohenen Kettensträfling, ebenfalls ein originelles, sozialkritisches Werk. Für seine Leistung in der Titelrolle nominierte ihn die Academy of Motion Picture Arts and Sciences für den Oscar. Nach einer weiteren Oscar-nominierten Hauptrolle im gesellschaftskritischen Film „In blinder Wut“ (1936) wandte sich Muni anspruchsvollen historisch-biografischen Stoffen zu. Unter Regie des deutschen Exilanten Wilhelm Dieterle war er als Louis Pasteur (1936), Emile Zola (1937) und Juarez (1939) überzeugend: Für die Hauptrolle in „Louis Pasteur“ erhielt er den Oscar, als erster jüdischer Schauspieler überhaupt. Louis Pasteur erscheint hier als Gegner von Ignoranz und Vorurteilen, als heftig angefeindeter Neuerer. Eine weitere Oscar-Nominierung folgte. Diese „biopics“ (Filmbiografien) entstanden nicht zufällig zwischen 1933 und 1939. Dieterle und seine Autoren mahnten humanistische Werte an, etwa den Einsatz Zolas gegen den Antisemitismus am Beispiel der Dreyfus-Affäre. Selbst die Romanverfilmung „Die gute Erde“ 1937 mit Muni als chinesischem Bauern kann als völkerverbindend eingeschätzt werden (seinerzeit wurde eher ein prominenter Schauspieler und eine zugkräftige Darstellerin als Chinesen maskiert, als dass ein echter befähigter chinesischer Mensch mit geringem Bekanntheitsgrad zu einer Hauptrolle gekommen wäre). Muni erklärte dazu: jenen chinesischen Bauern zu spielen sei ihm ebenso möglich wie die Darstellung von Ex-Präsident Herbert Hoover. Ausnahmsweise erhielt er dafür keine Oscar-Nominierung. Dagegen konnte  seine Filmpartnerin, die Deutsche Luise Rainer, die begehrte Trophäe entgegen nehmen.

Kennzeichnend war für ihn neben der äußerlichen Angleichung die intensive Vorbereitung auf die Rolle. Er wollte die entsprechende Persönlichkeit so genau wie möglich kennen, um ihr vor der Kamera gerecht zu werden.

In den folgenden Jahren war der Publikumsgeschmack verstärkt auf „Helden“ in Western, Kriegs- und Abenteuerfilmen ausgerichtet, und Darsteller mit einer Körpergröße von 1,90 Meter waren gefragt (John Wayne, Gary Cooper, später Gregory Peck und Charlton Heston). Demgegenüber stand Muni mit einer Körpergröße von 1,75 Meter etwas zurück. Gleichzeitig war Muni durch eine lebenslangen Herzschwäche behindert und sehr wählerisch in Bezug auf Filmangebote. So war er nach 1939 fast nur noch in Nebenrollen zu sehen. Muni lehnte Angebote ab, die er für künstlerisch oder gesellschaftlich „belanglos“ hielt. Selbst ein 800-000-Dollar-Studiovertrag über mehrere Filme unterschiedlicher Qualität (möglicherweise über sieben Jahre) konnte ihn 1940 nicht locken.

Das pro-zionistische Theaterprojekt

Um so stärker war er wieder auf den Bühnen am Broadway präsent. 1946 wirkte er in „A Flag Is Born“ mit. Dieses Drama von Ben Hecht mit der Musik von Kurt Weill, produziert von der American League for a Free Palestine (ALFP) warb für politische und finanzielle Unterstützung zugunsten der jüdischen Gemeinschaft im Mandatsgebiet, und nicht zuletzt für die jüdische Zuwanderung dorthin. Dieses offen politische Stück war kommerziell erfolgreich genug (120 Aufführungen alleine in New York), um auf Tournee durch die Vereinigten Staaten zu gehen. Eleanor Roosevelt, Lion Feuchtwanger und Leonard Bernstein gehörten dem Sponsorenkreis an. Muni spielte darin einen älteren, kranken Shoah-Überlebenden auf dem Weg nach Palästina, der am Vorabend des Sabbat auf einem Friedhof in Europa betet und in seinen Visionen biblischen Personen begegnet.

Karriereende

Angesichts der künstlerischen Erfolge in den 1930er Jahren und der kontinuierlichen Theaterarbeit über Jahrzehnte geraten die wenigen weiteren Filmauftritte Munis zur Nebensache – auch wenn er 1960 ein weiteres Mal für den Oscar als Hauptdarsteller in “Der Zorn des Gerechten” nominiert war. Damit schloss er die Kinokarriere ab. Ein Tony Award (“Bühnen-Oscar”) 1955 fiel zeitlich zusammen mit einer weiteren gesundheitlichen Krise: Dem 60-Jährigen musste wegen eines Tumors das linke Auge entfernt werden, so dass er sich allmählich auch vom Theater zurückzog.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Muni in Montecito bei Santa Barbara, wo er am 25. August 1967 verstarb.

Ein glamouröser, nur an Geld und Medienrummel interessierter „Star“ war Paul Muni nie. Zweifellos war er der bedeutendste jüdische Charakterdarsteller seiner Zeit in Amerika, dicht gefolgt von Edward G. Robinson. Nur wenige konnten sich in anspruchsvollen Rollen so behaupten wie er - auch wenn es aus unserer nachgeborenen Sicht oft als "overacting" erscheint. Im Gegensatz zu vielen anderen gestaltete er sein Privatleben offenbar weitgehend skandalfrei. 

Veröffentlicht in der Jüdischen Rundschau, Nr. 9/2020, S. 37

© Stefan Winckler

E-Mail
Anruf
Infos