Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Haben „die Journalisten“ in der Flüchtlingsdebatte gelogen? 

 1., Der kritische Journalist

Kritik zu üben, gehört neben der um Neutralität bemühten Berichterstattung zu den journalistischen Aufgaben – sowohl nach dem Rollenverständnis der Medienpraktiker selbst wie nach den Erwartungen des Publikums.

Dabei hat sich der Begriff des „kritischen Journalisten“ gewandelt: vor den geistig-kulturellen Veränderungen im Zuge von „1968“ galt ein Journalist als „kritisch“, der seine Quellen besoers sorgfältig prüfte („Stimmt diese Information überhaupt?“, „Gibt es eine weitere Quelle, die eine bestimmte Aussage bestätigt?“).

Seitdem ist der „kritische Journalist“ weitgehend synonym mit dem „gesellschaftskritischen Journalisten“ geworden, der aus einer linken Position heraus Staat, Teile der Gesellschaft, das „Establishment“ und die Wirtschaft zu „entlarven“ versucht (gelegentlich nach dem Motto: „Die Fakten passen nicht zu meiner Ideologie - ? Pech für die Fakten!“).

2., Kritik von Journalisten an Berufskollegen

Kollegenkritik ist in journalistischen Beiträgen eher selten; sie wird auch nur in Ausnahmefällen namentlich geübt – wenn es sich um besonders offenkundige oder allgemein als dreist betrachtete Fälle handelt (2018 Claas Relotius; 2000: Tom Kummer; 1983 „Stern“, Gerd Heidemann).

Über angebliche und wirkliche Skandale aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft erfahren die Mediennutzer viel, über Schäden durch unzutreffende Berichterstattung hingegen wenig. Literaturtip dazu: Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalisierung. Reinbek 2018.

 Im vorliegenden Heft setzt sich Klaus Kelle, Journalist mit 35 Jahren Berufserfahrung, mit Mängeln in der Arbeit seiner Kollegen auseinander.

3., Publikumskritik an Journalisten

Journalisten sind der Kritik des Publikums ausgesetzt. Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) beanstanden journalistische Aussagen per mail, Telefon und Brief, seltener in einem persönlichen Gespräch. Eine kritische Einstellung des Publikums bleibt aber häufig verborgen und wird erst in Form repräsentativer Befragungen erkennbar.

Schon 2005 meinten nur acht Prozent der Bevölkerung, dass es vor allem von Journalisten abhänge, ob Deutschland eine gute Zukunft habe (vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2003-09, S. 402). Eine weit höhere Wertschätzung genossen laut dieser Befragung Unternehmer und Politiker (74 bzw. 69 Prozent). Das geringe Prestige der Journalisten ist nicht neu: Sowohl 2001 als auch 1987 sahen nur acht Prozent der befragten Deutschen die Journalisten als Hoffnungsträger an (vgl. Allensbacher Jahrbuch 1998-2002, S. 24).

Einer Erhebung von Infratest Dimap ergab im Dezember 2014, 63 Prozent der Deutschen hätten „wenig“ oder „gar kein Vertrauen“ in Nachrichten/Informationen zum Ukraine-Konflikt, 53 Prozent vertrauten „wenig“ oder „gar nicht“ den Nachrichten/Informationen über den Krieg des sog. „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak. Selbst die Berichterstattung über ein innenpolitisches Thema – der seinerzeitige Lokführerstreik - stieß bei 40 Prozent der Rezipienten auf „wenig“ oder überhaupt kein Vertrauen (Hans Mathias Kepplinger, a.a.O., S. 11).

Auch in den Vereinigten Staaten sank das Vertrauen in die Medien deutlich: 70 Prozent der Demokraten-Anhänger vertrauten 2005 den Medien „stark“, acht Jahre später waren es immerhin noch 60 Prozent, 2016 blieben davon 51 Prozent übrig. Republikaner-Anhänger hatten ein deutlich schwächeres Vertrauen in die Medien: 30 Prozent 2005 und 2013, aber nur noch 14 Prozent 2016 (der demagogisch aufgeheizte Trump-Wahlkampf!) - so die entsprechenden Werte.

US-Präsident Donald Trump beschimpft Journalisten als „Feinde des Volkes“ - eine Vokabel aus dem Arsenal des Totalitarismus, v.a des Stalinismus, aber auch schon der Französischen Revolution in Person von Joseph Fouché. Obgleich es unfaire Angriffe auf Trump gab, so ist doch diese Attacke m.E. eines gewählten US-Präsidenten unwürdig – zumal Trump weder die meisten Wählerstimmen auf sich vereinigte noch in den Meinungsumfragen jemals die 50-Prozent-Zustimmungsrate überschreiten konnte. Die Verkörperung des Volkes ist er ebenso wenig wie seine zunehmend am linken politischen Rand (oder besser: Abgrund) angesiedelten Gegner. Nachrichten, die ihm nicht ins Konzept passen, nennt er „fake news“ - ein weiterer Mangel.

Lange Zeit kam Kritik an Teilen des Journalismus aus der neuen Linken: Man denke nur an die Kampagnen gegen Axel Springer und dessen „Bild“-Zeitung (nicht aber gegen Boulevardzeitungen aus anderen Verlagen wie etwa den Kölner „Express“ und die „Hamburger Morgenpost“1). Heute kommt die Kritik an den Medien kaum noch von links, sondern von sog. „Wutbürgern“, die sich von den Medien manipuliert fühlen.

Kritik ist in den Jahren seit etwa 2014 zu einem teilweise grobschlächtigen Beschimpfen ausgeartet: Pegida und AfD-Anhänger verwendeten das Schlagwort „Lügenpresse“. Sie meinten damit, sie würden von linksgerichteten Journalisten wahrheitswidrig dem Rechtspopulismus oder gar dem Rechtsextremismus zugerechnnet. Allerdings war der Lügen-Vorwurf ansonsten eher selten erhoben worden: Während im November 2016 20 Prozent der Bevölkerung von einer „Lügenpresse“ sprechen würden, bestritten 75 Prozent, das die Bezeichnung zutreffend sei. Unter AfD-Anhängern war das Wort von der „Lügenpresse“ hingegen mehrheitsfähig: 59 versus 35 Prozent sahen die Medien als verlogen an, während die Wähler der anderen Parteien und die bekennenden Nichtwähler davon nichts wissen wollten (z.B.: acht Prozent der CDU/CSU-Anhänger: ja, Vorwurf der „Lügenpresse“ trifft zu, 88 Prozent: trifft nicht zu).

Dennoch war das Vertrauen in die politischen Medien nicht sehr hoch: Im Oktober 2015 meinten 40 Prozent der Bevölkerung, die Medien wollten sie davon überzeugen, „sich über den unkontrollierten Zuzug von Immigranten keine Sorgen zu machen“. Im Frühjahr 2016 waren 60 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, die Nachrichtenmedien würden „berechtigte Meinungen, die sie für unerwünscht halten“, ausblenden, und nahezu die Hälfte hatten den Eindruck, die Nachrichtenmedien würden ihnen „vorschreiben, was man denken soll“ (Kepplinger, a.a.O., S. 26).

Die Berichterstattung über und die Kommentierung der Massenimmigration verdient eine wissenschaftliche Untersuchung. Der Mainzer Publizistikwissenschaftler Marcus Maurer untersuchte in einem Aufsatz der Fachzeitschrift „Publizistik“ mit seinen Mitarbeitern Jost, Häßler und Kruschinski, ob der Vorwurf der „Lügenpresse“ im Zusammenhang mit den stark erhöhten Zuwandererzahlen 2015ff. zutreffe. Dabei kam die Forschergruppe zu folgenden Ergebnissen:

Nachdem die Zahl der Immigranten 2016/17 stark abgesunken war, hielt die Skepsis sehr vieler Deutschen an: „Während die Befragten die Medienberichterstattung über eine Vielzahl anderer Themen für glaubwürdig hielten, gaben rund zwei Drittel an, Medienberichten über die ,Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen', nicht zu vertrauen. Sogar rund drei Viertel misstrauten der Berichterstattung über die Kriminalität von Flüchtlingen“. Außerdem zeigten sich 42 Prozent überzeugt, am Vorwurf der Lügenpresse sei „zumindest etwas dran“ (die Autoren beziehen sich auf Renate Köcher, Allensbach, in der FAZ, 22.2.2017).

Die Wirklichkeit ist, wie so oft, kein hart kontrastierender film noir, sondern eher eine fein gezeichnete Grisaille mit zahlreichen abgestuften Grautönen. Die einflussreichen und reichweitenstarken Medien FAZ, „Süddeutsche Zeitung“, „Bild“, „Tagesschau“, „Heute“ und „RTL Aktuell“ berichteten trotz einer von Jahr zu Jahr anschwellenden Immigration vor dem Mai 2015 so gut wie gar nicht über Zuwanderung – was vielen Mediennutzern im nachhinein als schwerer Mangel aufgefallen sein könnte. Parallel zum beschleunigten Anstieg der Zahl von registrierten Zuwanderern im Sommer 2015 (wir erinnern uns an belegte Sporthallen usw.) wuchs auch die Menge der Beiträge darüber in den aufgeführten Medien, nahm ab Oktober deutlich ab (obwohl die Zuwanderung im November 2015 kulminierte), um nach der Kölner Silvesternacht wieder kräftig zuzunehmen. Während Zuwanderer im Jahre 2015 genau 114.238 Kriminalitätsdelikte begingen (darunter etwa 27.000 Gewalttaten; Verstöße gegen das Ausländerrecht sind hier bereits abgezogen), veröffentlichten die oben genannten Medien diesbezüglich zusammen 92 Berichte (zwei Prozent aller Beiträge über Zuwanderer). Die relativ häufigen Eigentumsdelikte blieben weitgehend unbeachtet. Erst nach den Delikten in der Silvesternacht 2015/16 (bei weitem nicht nur in Köln) nahm die Kriminalität von Einwanderern einen viel größeren Raum im journalistischen output ein.

Im Sommer und Herbst 2015 waren nur sehr wenige Bedenken gegen eine verstärkte Aufnahme von Einwanderern in den Kommentarspalten deutscher Zeitungen zu finden. Dies änderte sich nach der Grenzöffnung September 2015, doch im Dezember 2015 waren Zuwanderer wieder überwiegend positiv bewertet worden: von der FAZ, mehr noch durch die SZ und ganz massiv in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen (positiver Überhang von 73 und 75 Prozent). Zuwanderung als abstrakter Sachverhalt wurde hingegen von allen untersuchten Medien eher als Gefahr gedeutet. Dennoch gab nur die FAZ den Bedürfnissen der einheimischen Deutschen gegenüber den Bedürfnissen der Zuwanderern einen eindeutigen Vorrang (+ 16 Prozent), während „Bild“ nahezu ausgewogen argumentierte. Die genannten Fernsehsendungen und die „Süddeutsche“ räumten den Bedürfnissen der Zuwanderer per saldo einen deutlichen Vorrang ein (vgl. Maurer, Jost u.a.). Die untersuchten Medien gaben hingegen Alter und Geschlecht weitgehend korrekt an, viele Bürger hatten ebendies in Zweifel gezogen.

4., Fazit 

Der amerikanische Journalistik-Wissenschaftler Jay Rosen veröffentlichte in der FAZ vom 2.9.2018 einen „Brief an die deutschen Journalisten“. Er rät: „Als Journalisten haben Sie nicht die Aufgabe, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen. Ihre Aufgabe ist es, sie auf Dinge aufmerksam zu machen, über die sie nachdenken sollten. In der Sozialwissenschaft wird das als „Agenda-Setting“ bezeichnet. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben von Journalisten. Es reicht aber nicht, wenn die Themen von der jeweiligen Redaktion bestimmt werden. Es reicht auch nicht, die Agenda von den Regierenden zu übernehmen. Was, wenn die nicht zuhören? Ihre Agenda darf sich auch nicht nach dem Unterhaltungswert richten oder sich von Sensationen und Tabubrüchen bestimmen lassen. Auch in diesem Bereich braucht es neue Wege – und Transparenz“. So sollten Medien ihre Berichterstattungs-Schwerpunkte öffentlich machen; wächentlich oder anlässlich wichtige Ereignisse seien diese zu aktualisieren.

Diesen Gedanken kann, so auch der Tenor zahlreicher Stellungnahmen von Rezipienten aus dem bürgerlichen Milieu einschließlich des OMCT, zusgestimmt werden.

Auffallend ist meines Erachtens die Zunahme einer sterilen, künstlichen Aufgeregtheit in den Medien – traditionelle Massenmedien und soziale Netzwerke - über einzelne Zitate von Politikern und anderen Prominenten. Allzu schnell wird Extremismus, Rassismus und Sexismus gewittert, wo eigentlich eher Stillosigkeit, Geschmacklosigkeit, Formatdefizite von Personen u.ä. vorliegen.

Weit entfernt stattfindende (Bürger-)Kriege bis hin zu politisch motivierten Massenmorden, schleichenden Umweltkatastrophen, dauerhafter Unterentwicklung, sozialer Ausbeutung wie etwa Kinderarbeit und manches andere mehr tauchen vergleichsweise selten in der Berichterstattung der maßgeblichen Nachrichtensendungen auf: es sei denn, derartige Realitäten lassen sich in spektakulären Bildern zeigen (Ölkatastrophe, Feuer, Geschützdonner an einer wirklichen oder vermeintlichen Front etc.). Journalisten „übersehen“ hierzulande eher linksextremistische Delikte als rechtsextremistische Kriminalität.

Es ist sehr leicht zu begreifen, dass die Realität eines Landes, einer Region oder gar der ganzen Welt nicht eins zu eins abgebildet werden kann. Aber der Hang zu Emotionalisierung, Anprangerung, Sensation scheint in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht zuletzt durch den Einfluss privater Fernsehkanäle auch auf die Öffentlich-Rechtlichen angeschwollen zu sein.

 

Literatur

Marcus Maurer, Pablo Jost, Jörg Häßler, Simon Kruschinski: Auf den Spuren der Lügenpresse. Zur Richtigkeit und Ausgewogenheit der Medienberichterstattung in der „Flüchtlingskrise“. In: Publizistik, Heft 1 /Februar 2019, S. 15-35. Online:

https://www.researchgate.net/profile/Pablo_Jost/publication/

329843108_Auf_den_Spuren_der_Lugenpresse_Zur_Richtigkeit_und_Ausgewogenheit_der_

Medienberichterstattung_in_der_Fluchtlingskrise/links/5c4075afa6fdccd6b5b43285/Auf-den-Spuren-der-Luegenpresse-Zur-Richtigkeit-und-Ausgewogenheit-der-Medienberichterstattung-in-der-Fluechtlingskrise.pdf?origin=publication_detail

Hans Mathias Kepplinger: Totschweigen und skandalisieren. Köln 2017

www.kepplinger.de - Vortragsmanuskripte

Zur Berufssituation von Journalisten, ihre akademische Ausbildung, Beschäftigung, Einkommen und Rollenverständnis in der Gegenwart sei verwiesen auf: Nina Steindl, Corinna Lauerer,Thomas Hanitzsch: Journalismus in Deutschland. Aktuelle Befunde zu Kontinuität und Wandel im deutschen Journalismus. In: Publizistik, Heft 3 /2017, S. 402-423. Bei dieser Studien, entstanden an der LMU München, handelt es sich um die erste repräsentative Bestandsaufnahme des Journalismus hierzulande seit 2006.

 

1Die „Hamburger Morgenpost“ erschien von 1948 bis 1980 im SPD-eigenen Verlag Auerdruck. Der erste und langjährige Chefredakteur Heinrich Braune gehörte der SPD an, der spätere Chefredakteur Wolfgang Clement (1986-89) war zuvor Sprecher des SPD-Bundesvorstands und später Minister auf Landes- und Bundesebene.

© Stefan Winckler
 

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