Stefan Winckler
Historiker und Buchautor


Wolfgang Gedeon – antisemitischer Hetzer oder „nur“ ein Sonderling?

Hin und wieder kann einen Mediennutzer das Gefühl überkommen, er lebe in einer ganz anderen Zeit als derjenigen, in der er sich tatsächlich befindet. So gibt es merkwürdige Typen, „Käuze“ und Sonderlinge, die sich berufen fühlen, Stellung zu politischen Vorgängen beziehen. Deren Zahl und vor allem deren Reichweite ist im facebook-Zeitalter kräftig angestiegen, um nicht zu sagen: in die Höhe geschossen. Es sind diejenigen, die mit Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus und antisemitischen Behauptungen um sich werfen, aber auch diejenigen, die aus einer „antifaschistischen“ Position verfassungs- und gesetzestreue Konservative als Nazis, Rassisten u.ä. verunglimpfen. 

Ein Mann ist 2016 schlagartig zum Debattenthema geworden. Erst wandte er im linksextremistischen Milieu viel Zeit und Kraft auf (oder besser: er verschwendete seine Energie), um Jahre später mit denjenigen Theorien aufzuwarten, die bekanntermaßen seit Jahrzehnten widerlegt aber noch lange nicht tot sind. Bemerkenswerterweise sind es jene Thesen, die im alt-nationalistischen, rechtsextremistischen Milieu auf Sympathie stoßen. Name: Wolfgang Michael Gedeon.

„Lunatic fringe“ I: Unter Maos und Hoxhas blutroter Flagge

Geboren 1947 im oberpfälzischen Cham, studierte er zunächst in Würzburg und ab 1969 in München Medizin. Es war die Zeit, in der linke und auch linksextreme Gruppen an den Universitäten eine zum größten Teil destruktive Wirkung entfalteten. Gedeon schloss sich der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten an: es war eine maoistische Politsekte (mehrere sehr kleine K-Gruppen nannten sich „Kommunistische Partei“). Die KPD/ML behauptete, die Deutsche Kommunistische Partei sei als Filiale der KPdSU und der SED auf einem „revisionistischen“ (vgl. „Roter Morgen“, http://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/MUE/Gelsenkirchen_KPDML.shtml) Kurs, während die Orientierung vor allem an dem albanischen Parteichef Enver Hoxha und Mao einem authentischen Marxismus-Leninismus entspreche. Der extremistische Charakter wurde nicht nur durch zahlreiche programmatische Aussagen, sondern auch durch das Parteisymbol unterstrichen: Hammer, Sichel und Gewehr. Ihre „Klassiker“ waren Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, wie ebenfalls einer regelmäßigen Illustration des „Roten Morgens“ zu entnehmen ist. Die KPD/ML erklärte offen, ihr Ziel sei die „gewaltsame Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats“ und die Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ (Ernst Aust: Genscher auf den Spuren Görings. In: „Roter Morgen“, 5. Jg. (1971), März 1971, S.2).

Wolfgang Gedeon war nach Examen und Promotion im Ruhrgebiet als Arzt tätig. Nebenbei setzte er seinen politischen Kampf in der Jugendgruppe der KPD/ML fort, indem er die Parteizeitung „Roter Morgen“ verkaufte und an einer Aktion gegen die Fahrpreiserhöhung der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahn AG mitwirkte. Er agitierte auch gegen die Schließung kleinerer Krankenhäuser in der Region. In seiner Praxis hingen Bilder aus Albanien, ebendort im Wartezimmer lagen für seine nicht ganz wenigen Patienten aus dem linksextremen Milieu der „Rote Morgen“ und ein Roman des albanischen Schriftstellers Dritero Agolli aus, der Kleister für die Plakate wurde in Gedeons Räumen angerührt. Er war auch Mitglied in der Volksfront gegen Faschismus und Krieg. Soweit die Angaben eines ehemaligen Genossen Gedeons namens „Winnie“ (Winfried A. Karsten) in einer Ausgabe des „Roten Morgen“ (http://rotermorgen.info/RM2016/Juni16/interview.html) anlässlich der Debatte um die Aussagen Gedeon über die sogenannten „Protokolle von Zion“.

Der Gelsenkirchener K-Gruppen-Experte Dietmar Kesten (www.mao-projekt.de/BRD/NRW/MUE/Gelsenkirchen_KPDML.shtml) fügt hinzu, dass Gedeon 1975 in Bochum für den nordrhein-westfälischen Landtag kandidierte (vgl. http://www.mao-projekt.de/BRD/VLB/Roter_Morgen/RM_1975_17_Wahlextrablatt.shtml). Jedenfalls blieb seine Partei auch im linksextremistischen Lager marginal (1731 Stimmen in ganz NRW, vgl. http://wahl.tagesschau.de/wahlen/1975-05-04-LT-DE-NW/). Auch Kesten benennt Gedeon, den „kommunistischen Arzt“ („Roter Morgen“) als (wahrscheinlichen) Agitator gegen die Schließung des Knappschaftskrankenhauses in Gelsenkirchen. Ob ein Artikel im „Roten Morgen“ zu diesem Thema von Gedeon verfasst wurde, erscheint möglich, ist aber nicht zu belegen, weil die Artikel anonym erschienen. Die Bundesknappschaft entließ Gedeon, Assistenzarzt am Knappschaftskrankenhaus, im Mai 1975. Es kam zum Prozess vor dem Arbeitsgericht. Offenbar eröffnete Gedeon im Anschluss seine Praxis. Dazu der „Rote Morgen“: „Am 5.5.75, einen Tag nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, erhielt Genosse Wolf G. seine Kündigung. Genosse Wolf arbeitet seit einiger Zeit im Knappschaftskrankenhaus in Gelsenkirchen. Er war Kandidat der KPD/ML für die Landtagswahlen. Der Grund für seine Kündigung erfuhr Genosse Wolf nur mündlich. Der Verwaltungsleiter des Krankenhauses erklärte ihm, er habe sich auf der letzten Belegschaftsversammlung zu einem damals verteilten Flugblatt gegen die drohende Schließung des Krankenhauses bekannt, er habe ‘einen Keil zwischen Belegschaft und Personalrat getrieben‘. Deshalb habe auch der Personalrat bei der Hauptverwaltung in Bochum den Antrag gestellt, ihm zu kündigen.
Diese Kündigung ist die Antwort darauf, dass Genosse Wolf als Kommunist an der vordersten Front im Kampf der Belegschaft gegen die Schließung des Krankenhauses gestanden hat (…)“ (http://www.mao-projekt.de/BRD/VLB/Roter_Morgen/RM_1975_21.shtml=).

Am 4.3.1977 schrieb der „Rote Morgen“, Gedeon habe in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht gewonnen, aber die Bundesknappschaft habe Revision eingelegt. (vgl. + v http://www.mao-projekt.de/BRD/VLB/Roter_Morgen/RM_1977_09.shtml)

Am 28.11.1977 wurde Gedeon wegen eines Flugblatts gegen die Schließung des Krankenhauses zusammen mit drei anderen Angeklagten zu einer Geldstrafe wegen Verunglimpfung des Staates verurteilt (vgl. „Emscherbote“, Dez. 1977, S.1; http://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/MUE/GE_Emscherbote/Gelsenkirchen_Emscherbote_19771200.shtml

Die KPD/ML kam bei allem Bemühen, sich an die Spitze des Missmuts bezüglich von Fahrpreiserhöhung und Krankenhausproblemen zu setzen, nie über einen Hoxha- und Mao-Fanclub hinaus. Als gegen Ende der 1970er Jahre derartige Politsekten immer mehr der Auflösung entgegenschlitterten, löste sich auch der Kader Wolfgang Gedeon vom bisherigen streng dogmatischen, ultralinken Kurs. Er engagierte sich im KPD/ML-Ableger „Volksfront gegen Faschismus und Krieg“, der im Bundestagswahlkampf 1980 mit der Parole „Stoppt Strauß“ und dem „Anachronistischen Zug“ für Aufmerksamkeit über den engsten Zirkel hinaus sorgte. Anschließend nahm er an der Friedensbewegung teil. Wenig ist über seine weitere Entwicklung zu erfahren, lediglich seine Hinwendung zur Esoterik ist bekannt: „Es begann mit Esoterik, Wünschelruten, Pendeln. Ich sagte zu ihm, daß ich normal wie immer ohne Hokuspokus behandelt werden wollte. Plötzlich trat er im Fernsehen mit Gesundheitssteinen auf. Als KPD/MLer war er immer fanatisch. Genauso steigerte er sich in die Esoterik hinein“ (vgl. Zeitzeuge „Winnie", a.a.O.). Hier war es offenbar die Suche nach einer neuen geistigen Heimat, die aber nach wie vor nicht im mainstream liegen sollte, sondern in einer scheinbar überlegenen Randposition, die gegen die Mehrheitsposition opponiert.

Gleichzeitig schrieb Gedeon Bücher. 1980 erschien „Grundsätzliche Probleme der allgemeinärztlichen Kassenpraxis“, 1986 „Empirische Heilmethoden in der Allgemeinmedizin“ „Einführung in die Naturheilkunde“, 1991 „Erfahrungsheilkunde und Naturheilverfahren“, 1999 „Von der biologischen Medizin zur Ganzheitsmedizin. Eine Gesamtschau der Heilkunde“, 2000 „Eigenbluttherapie und andere autologe Verfahren“ (vgl. amazon.de, Suchbegriff Wolfgang Gedeon).

„Lunatic fringe“ II: auf antijüdischem Kurs

 Politische Veröffentlichungen folgten: Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam (in drei Bänden).

Auszüge veröffentlichte Gedeon auf seiner Internetseite, wo er sich als (implizit) selbst ernannter „Meister“ mit einem „Meisterwerk“ zu präsentieren versucht. In seiner umfangreichen Monografie „Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten“ kam er sonderbarerweise auf die Schrift „Protokolle der Weisen von Zion“ zu sprechen: „Wenn es um Antisemitismus geht, ist immer wieder von den sog. Protokollen der Weisen von Zion die Rede. Dabei wird von allem, ob im Fernsehen oder in der Zeitung darüber berichtenden Journalisten, stereotyp, ja mantraartig der Zusatz angefügt, diese seien wissenschaftlich längst als Fälschung entlarvt. Das stimmt freilich so nicht. Schaut man sich beispielsweise das letzte diesbezügliche Opus eines gewissen Wolfgang Benz an, seines Zeichen Inhaber eines Lehrstuhls für Antisemitismusforschung in Berlin, dann kann man nur sagen: Wenn das Wissenschaft ist, dann ist auch die Bild-Zeitung wissenschaftlich“ (http://www.wgmeister.de/wp-content/uploads/2016/06/Protokolle_aus_Der_gruene_Kommunismus.pdf). Im folgenden legt er nahe, die „Protokolle“ seien eine Wiedergabe einer tatsächlichen Unterredung am Rande des ersten Zionistenkongresses 1897. Als ob es nicht zahlreiche fundierte Untersuchungen zum Plagiats- und Verhetzungscharakter der „Protokolle“ gäbe, die auch im Internet sehr leicht recherchierbar sind! Tatsächlich handelt es sich um ein eher ermüdendes Traktat, in dem eine Person sich brüstet, „wir“ (die Juden oder nur eine Gruppe von Juden) seien dabei, allmählich die Weltherrschaft durch ständige Manipulationen zu ergreifen. Alle antisemitischen Klischees sind entgegen jedem propagandistischem Geschick sehr dick aufgetragen, worunter die Glaubwürdigkeit leidet – es sei denn, der Leser traut jüdischen Kreisen alles Schlechte auf der Welt zu und ist demnach ein Antisemit. Ferner ist von einer Gliederung wenig zu spüren, es fehlen auch die für Niederschriften von Tagungen unentbehrlichen Angaben zu Zeit, Ort, Teilnehmern. Gedeon schreibt weiterhin, eine einzelne Person wie etwa ein zaristischer Geheimdienstler könne einen derartig „intellektuellen“ Text gar nicht erstellt haben. Eben dies behauptet auch niemand, im Gegenteil, dem endgültigen „Protokoll“-Text liegt eine satirische Schrift von Maurice Joly zugrunde („Dialog in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“, 1864), die durch judenfeindliche Einschübe dreieinhalb Jahrzehnte später in eine antisemitische Richtung verschoben wurde. Eine weitere Quelle war die dem Roman „Biarritz“ von Hermann Goedsche alias John Retcliff entnommene fiktive Unterredung von Juden auf ihrem alten Friedhof von Prag – Vertreter der zwölf Stämme Israels beraten, wie nahe sie an der Ergreifung der Weltherrschaft sind. Idee, Auftragsvergabe und die eigentliche Herstellung besorgten mehrere Männer, deren Namen bekannt sind. Die endgültige Arbeit, Texte auszuschneiden, zusammenzukleben und alles „wie aus einem Guss aussehen“ zu lassen, übernahm ein Mann namens Matwej Golowinskij, an den eine Honorarzahlung des altrussischen Geheimdienstes Ochrana überliefert ist: das Privatarchiv des russischen Agenten Henri Blint wurde 1946 von der UdSSR in Prag entdeckt, und es enthielt den Beleg über eine Zahlung an Golowinkij als den „Kompilator“ des „Protokoll“-Machwerks (vgl. Felix Philipp Ingold: Fabrikation eines Mythos. Neues zur Entstehung der „Protokolle der Weisen von Zion“. Online: http://www.kirchen.ch/pressespiegel/nzz/0310.htm). Gedeon schreibt weiterhin, die „Protokolle“ seien wohl kaum eine zaristische Fälschung, da sie im alten Russland nicht verbreitet worden wären. Ein weiterer Irrtum Gedeons: Sie wurden sehr wohl vor 1917 sogar in mehreren Auflagen veröffentlicht, auch wenn sie möglicherweise zuerst nur für Nikolaus II. bestimmt waren, um ihn in seiner Ablehnung des angeblich „jüdischen“ Liberalismus zu unterstützen! Sie seien, so Gedeon weiterhin, sicher antizionistisch, aber nicht antisemitisch. Auch hier kann widersprochen werden, denn die Verleger, etwa Theodor Fritsch, waren Antisemiten, denen nach eigener Aussage an einer allgemein judenfeindlichen öffentlichen Meinung lag, zumindest an einer Stimmung gegen jüdische Eliten. Eine jüdischen Heimstatt an der Levante war ohnehin nicht in Sicht. Zudem war anzunehmen, dass die Leser der „Protokolle“ nicht allzu feinsinnig zwischen „antisemitisch“ und „antizionistisch“ unterscheiden werden. Um es zusammenzufassen: Die „Protokolle“ sind m.E. eine allzu offenkundige, vulgär-machiavellistische Schrift, die fortwährend nach dem Motto: „Der Zweck heiligt die Mittel“ oder „unsere Losung – Gewalt und Täuschung“ gestrickt ist. Keine weltweit bedeutsame Gruppe würde derartige Überlegungen protokollieren und in einer Wohnung deponieren lassen, die wenige Jahre später von der Polizei durchsucht wird.

Im übrigen scheint es der Ex-Kommunist Gedeon besonders naheliegend zu finden, dass eine kleine Gruppe von „Kadern“ alles plant und langfristig beherrscht, was ja in den „Protokollen“ nahegelegt wird. Überhaupt war ja die KPD/ML von zahlreichen Verschwörungen der „Kapitalisten“, der „Faschisten“ und der „Revisionisten“ (also der UdSSR-orientierten Kommunisten) überzeugt, von einer Mitwirkung von „Arbeiterverrätern“ wie Sozialdemokraten und Gewerkschaften ohnehin.

Eine Artikelserie in der „Times“ von 1921 sowie der Berner Prozess von 1934 entlarvten die „Protokolle“ als Fälschung.

Wer sich näher mit der Geschichte um „copy and paste“ zu antisemitischem Zweck auseinander setzen will, dem sei das Buch von Jeffrey Sammons „Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar“, Göttingen 1998 (4. Aufl. 2007) empfohlen. Der Verfasser, ein amerikanischer Professor für Literaturwissenschaften, ist zuvor insbesondere als Forscher zum Thema Heinrich Heine in Erscheinung getreten. Er schreibt, „einen Grund, sich diesem Machwerk so ausgiebig zuzuwenden, sehe ich heute allerdings vorrangig in der Aufklärung über die Denkmuster und Argumentationsstruktur einer antisemitisch verwendeten Verschwörungstheorie“ (S. 26).

Stärker noch ist im Zusammenhang mit Gedeon auf den Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber hinzuweisen. Er, der sich bereits durch seine Dissertation über „antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos“ als Experte auswies, analysierte im Mai/Juni 2016 die politischen Bücher Gedeons. Ihm fiel auf, dass Gedeon weder die sogenannten „Protokolle“ im Original noch die „Dialoge in der Unterwelt“ noch die umfangreiche Fachliteratur (die G. ja als „matraartig“ abqualifiziert) in seinem Literaturverzeichnis aufgeführt hat, abgesehen von einer ebenfalls obskuren Streitschrift eines Johannes Rothkrantz. Das erinnert uns an einen anderen Autor, Gerd Schultze-Rhonhof, der sich ebenfalls pauschal gegen „die Historiker“ im Zusammenhang mit den Ursachen des Zweiten Weltkriegs wendet, ohne die maßgebliche Literatur ausgewertet zu haben. Schultze-Rhonhof folgend, sieht auch Gedeon eher die Kriegsgegner von 1939 als die Schuldigen an. Wer nämlich Hitler als Hauptverantwortlichen betrachte, folge, so Gedeon, einer „vom Zionismus diktierten Version“ (vgl. http://www.hagalil.com/2016/06/gedeon/). Beide beziehen sich lieber auf Außenseiter-Veröffentlichungen, die die eigenen Überzeugungen stützen, aber nichts anderes als publizistische Falschmünzerei zur Zeitgeschichte bieten.

Wer an jüdische Weltherrschaftspläne glaubt und alle Gegenargumente ausblendet, ist zu weiteren bizarren Einstellungen befähigt. Denn sehr sonderbar ist Gedeons Umschreibung der Shoah-Massenmorde als „gewisse Schandtaten“ und die Beschreibung von Holocaust-Leugnern wie etwa Horst Mahler als „Dissidenten“. Mahler und seinesgleichen leugnen und verniedlichen offenkundige Tatsachen. Die Shoah gehört zu den am besten erforschten Vorgängen der Geschichte. Wer behauptet, einen derart zentral organisierten Massenmord insbesondere durch Gas habe es nicht gegeben, der beleidigt die Angehörigen und Nachkommen der Opfer. Das ist ein Unterschied zu den Regimekritikern und Bürgerrechtlern in totalitären Regimen, die als „Dissidenten“ bezeichnet werden, und unter Gefahr für ihr Leben und den Rest ihrer Freiheit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machten. Mag sein, dass sich die Holocaust-Leugner selbst als Dissidenten ansehen; im Gegensatz zu den Regimekritikern in China und der damaligen UdSSR werden sie nicht von Patriotismus angetrieben, sondern von Hass auf die Juden, denen sie Lüge und Profitgier nachsagen. Und meint Gedeon gar, die Bundesrepublik sei wie die DDR totalitär?

Gedeon bestreitet Antisemit zu sein. Niemand bezeichnet sich heute als Antisemit, ebensowenig, wie sich jemand explizit des Extremismus bezichtigt. Vermutlich würde er einer neonazistischen, biologistischen Hetze vehement widersprechen. Doch tarnt sich oft hinter einem spezifischen „Antizionismus“ ein allgemeiner Antisemitismus. Und ist nicht jemand letztendlich ein Antisemit, der einen jüdischen Welteroberungsplan für plausibel hält? Wer von talmudischem Judaismus schwafelt, der seit Jahrhunderten im Gegensatz zum Christentum stünde und dieses hier in Europa bedrohe, und insbesondere heute den Zionismus als Gegenpart des christlichen Abendlandes und insbesondere Deutschlands betrachtet, braucht sich nicht zu wundern, wenn er den Antisemiten zugerechnet wird. Denn Antisemitismus ist weit mehr, als Juden grundsätzlich abzulehnen und auf welche Weise auch immer bekämpfen zu wollen. Wer in einem Atemzug eine „jüdische Kollaboration mit äußeren Feinden“, „Zinswucher im Mittelalter und ähnliches“ erwähnt, und dann die „Politik Israels“ für eine „zunehmende antiisraelische Einstellung der Weltbevölkerung“ nahelegt, der sieht die Judenheit in Geschichte und Zeitgeschichte wohl kaum nüchtern und objektiv.

Mitglied des Landtags – mitten in der Öffentlichkeit

2013 trat Gedeon der neuen Partei Alternative für Deutschland bei. Wir fragen uns, wie eine derartige Person überhaupt Mitglied einer Partei wie der AfD werden konnte, die jedenfalls seinerzeit betonte, dass sie keine Rechtsextremisten aufnähme. Ein Mitglied der AfD erklärte uns im Herbst 2015, die Partei habe ihm nach Eingang seines Antrags auf Parteibeitritt geantwortet, bis zur Entscheidung darüber verginge ein Vierteljahr – er hatte sogar noch einige Wochen länger zu warten, und wandte sich von der AfD ab. Wir fragen uns, wie der AfD-Kreisverband Singen Wolfgang Gedeon zum Kandidaten für die Landtagswahl vom März 2016 nominieren konnte. Hatte die Versammlung kein Interesse an seiner Vergangenheit? Dass Gedeon nicht ausreichend überprüft wurde, stattdessen fahrlässigerweise aufgenommen und nominiert wurde, erscheint skandalös. Die Partei hätte insbesondere bedenken müssen, was Gedeon bereits im Jahre 2009 als Buch veröffentlicht hat. Dies ist nicht zu viel verlangt, denn im Internet-Zeitalter ist das Recherchieren sehr einfach. Es kann aber auch sein, dass Gedeon gezielt von außen eingeschleust wurde, um die AfD in Misskredit zu bringen. Allerdings hat auch in diesem Fall die Partei bei der Aufnahme bzw. ein Teil der Landtagsfraktion nach Bekanntwerden der entsprechenden Phrasen versagt, weil sie ihn akzeptiert bzw. nicht bei erster Gelegenheit ausgeschlossen hat. Tatsächlich scheiterte im Juni 2016 der Ausschluss Gedeons aus der Landtagsfraktion, die sich anschließend in zwei etwa gleich große Teile aufspaltete. Gedeon selbst trat nach Intervention der Parteivorsitzenden Frauke Petry aus der Landtagsfraktion aus, so dass er fortan als fraktionsloses MdL weiterhin Parlamentarier war. 

Eine Partei und erst recht eine Fraktion kann sich m.E. keine Beliebigkeit erlauben, sondern muss auf ihren Grundkonsens achten. Einem Mitglied, das gravierend dagegen verstößt – antijüdische Weltverschwörungsfantasien auf der Grundlage widerlegter antisemitischer Fälschungen sind abseitig - ist auszuschließen. Weitere "Fälle" in der AfD, die nicht parteiintern geahndet werden, gibt es zuhauf.

 

Literatur

www.wgmeister.de

Werner Patzelt: Gedeon und der Antisemitismus. Gutachten. Online: http://wjpatzelt.de/?p=895

Armin Pfahl-Traughber: Wolfgang Gedeon und die „Protokolle der Weisen von Zion“. Online: http://www.hagalil.com/2016/05/wolfgang-gedeon/.

Ders.: Mehr Geschichtsverdrehungen und Verschwörungsphantasien des AfD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon. Online: http://www.hagalil.com/?s=pfahl-traughber

Harald Seubert: Der neue deutsche Antisemitismus – Eine Intervention. Online: http://www.dr-harald-seubert.com/texte/der-neue-antisemitismus-eine-intervention.html

© Stefan Winckler

  


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