Das Grundgesetz
1948 entwickelte sich die Sowjetische Besatzungszone in Deutschland immer mehr zu einem stalinistischen Teilstaat, was mit der Proklamierung der SED als "Partei neuen Typs" und der Uneinigkeit der sowjetischen Besatzungsmacht mit den westlichen Alliierten immer deutlicher wurde. Westdeutschland formierte sich als einheitliches Wirtschaftsgebiet ("Trizone"). Als die Trizone eine neue Währung, die D-Mark, einführte, antwortete die UdSSR mit der Blockade der westlichen Sektoren Berlins und der Einführung einer eigenen Währung in der SBZ. Damit war die Spaltung in wirtschaftlicher Hinsicht für jeden erkennbar. Und auch auf anderen Politikfeldern waren keine Kompromisse mehr erreichbar. So spaltete sich zuerst die Berliner Polizei, weil ihr kommunistischer Präsident Paul Markgraf die Anordnungen des christdemokratischen Bürgermeisters Ferdinand Friedensburg ignorierte, wenn nicht sabotierte, und zunehmend SED-Kader mit Polizeiaufgaben betraute. So sahen sich immer mehr Berliner Behörden gezwungen, ihren Sitz in den Westsektoren zu nehmen, weil im östlichen Sektor die SED faktisch auf Umsturz aus war. Diese Tendenz von eingeschränkt demokratischen Systemen zum Stalinismus hat eine gesamteuropäische Dimension, wie die Erfahrungen in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien belegen. 2013 hat Anne Applebaum eben dazu ein sehr lesenswertes Buch vorgelegt ("Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956").
Die Spaltungen in wirtschaftlicher und immer mehr in politischer Hinsicht ließen die westlichen Besatzungsmächte zunehmend an die politische Gestaltung eines westdeutschen Teilstaates herantreten. Dazu bedurfte es einer Verfassung. So bestellten sie für den 1. Juli 1948 die westdeutschen Ministerpräsidenten (Länderverfassungen und gewählte Länderregierungen gab es seit 1946) in das amerikanische Hauptquartier, das IG-Farben-Haus, nach Frankfurt. Dort übergaben sie ihnen die "Frankfurter Dokumente": Leitlinien zum Inhalt der auszuarbeitenden Verfassung. Unter www.documentarchiv.de/brd/frftdok.html kann sich der Leser überzeugen, dass sie sich inhaltlich im Einklang mit der demokratischen Verfassungstradition Deutschlands, insbesondere jener der Weimarer Republik, befindet, den Einstellungen der gewählten deutschen Nachkriegspolitikern entspricht und den Verfassunggebern viel Freiheit in der Ausarbeitung lässt: "Die Verfassunggebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene zentral-Instanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält". Ländergrenzen können geändeert werden (auch dies ein Thema 1919ff.). Die Militärgouverneure werden Zuständigkeiten, die inneren Verhältnisse betreffend, an die deutschen Regierungen übertragen, sich aber "vorläufig" auswärtige Beziehungen und die vereinbarten Maßnahmen der Dekartellisierung und Demontagen vorbehalten.
Eine Woche später trafen sich die westdeutschen Ministerpräsidenten im Koblenzer Hotel "Rittersturz". Da sie einen gesamtdeutschen Staat unter Einschluss der SBZ nicht für realisierbar hielten, favorisierten sie den Zusammenschluss der drei westlichen Zonen. Um den provisorischen Charakter eines westdeutschen Teilstaates zu betonen, wählten sie die Bezeichnung "Grundgesetz" statt "Verfassung". Dementsprechend sollte auch keine Nationalversammlung, sondern ein parlamentarischer Rat, zusammengesetzt aus Vertretern der demokratisch gewählten Landtage, die Ausarbeitung übernehmen. Fünf Wochen später trat im Alten Schloss zu Herrenchiemsee ein Sachverständigenausschuss unter dem Vorsitz des bayerischen Staatsministers Anton Pfeiffer (CSU) zusammen. Er einigte sich auf folgende Grundlagen: Das Bundesparlament besteht aus einem Abgeordnetenhaus und einer Länderkammer. Die Länder verfügen über eine eigene Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz und Finanzhoheit. Damit war der föderale Charakter des Staatswesens umschrieben, der angesichts der unterschiedlichen deutschen Stämme und den verschiedenen deutschen Länder und Stadtstaaten grundsätzlich der Tradition entsprach. Eine Lehre aus der Weimarer Reichsverfassung und ihrer Verfassungswirklichkeit glaubte der Herrenchiemseer Konvent mit der Beschränkung des Staatsoberhaupts als neutrale Gewalt "neben der Regierung" gezogen zu haben, während die Bundesregierung im Vergleich zu den Reichsregierungen gestärkt war: Eine arbeitsunfähige [Parlamentsmehrheit] konnte in der Weimarer Republik die Regierungsbildung vereiteln und eine bestehende Regierung stürzen. Der Weg in eine Präsidialregierung war damit gegeben". Dies wollten die Väter des Grundgesetzes künftig verhindern. Ablehnend stand der Konvent auch den Elementen einer direkten Demokratie gegenüber, was angesichts der Plebiszite in der ersten Republik und der Verführung durch einen Demagogen nicht verwundert: "Es gibt kein Volksbegehren. Einen Volksentscheid gibt es nur bei Änderungen des Grundgesetzes". So konnte die Arbeit von Bundesregierung und Bundestagsmehrheit nicht konterkariert werden.
Die Ausarbeitung der einzelnen Artikel oblag dem Parlamentarischen Rat. Bestehend aus 65 Delegierten der westdeutschen Länder und fünf Vertretern Berlins begann er am 1. September in Bonn mit seinen Beratungen unter dem gewählten Vorsitzenden Konrad Adenauer. Er hielt sich an die Vorgaben der vorangegangenen Konvente. Gegenüber den Aliierten konnte er sich in der Frage der Stellung Berlins nicht durchsetzen, das der Parlamentarische Rat als gleichberechtigtes Bundesland wünschte: das seinerzeit durch eine Luftbrücke versorgte Berlin (West) musste bis 1990 mit einem Sonderstatus unter alliiertem Vorbehalt Vorlieb nehmen.
Währenddessen, im März 1949, wünschte auch die Bevölkerung der Trizone mehrheitlich die Bildung eines westdeutschen Bundesstaates (51 Prozent dafür, 23 Prozent dagegen, jeweils 13 Prozent gleichgültig oder unentschieden). Angesichts der vordergründigen materiellen Not und Ungewissheit hielt sich das Interesse an der Ausarbeitung des GG in Grenzen: 40 Prozent der Befragten war dies gleichgültig, 33 Prozent waren "mäßig interessiert", 21 Prozent waren "sehr interessiert", der Rest war unentschieden.
Der Parlamentarische Rat verabschiedete am 8. Mai 1949 mit 53 zu zwölf Stimmen das GG, das die westlichen Alliierten am 12. Mai 1949 genehmigten und das am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Angesichts des westdeutschen Staatsprovisoriums wurde das GG nicht als Verfassung durch ein Plebiszit angenommen: Dies hätte die Deutschen in der SBZ ausgesperrt. Vielmehr stimmten die Landtage, außer Bayern, dem GG in getrennten Sitzungen zu. Was war in München geschehen? Dort favorisierte die CSU unter dem Druck der fast schon separatistisch gesonnenen Bayernpartei eine noch stärker dezentrale Ordnung. Mit diesem Votum spaltete sich Bayern freilich nicht ab und erklärte sich nicht für unabhängig. Vielmehr wollte auch die CSU, dass Bayern an der Bundesrepublik mitwirke. Die Entscheidung der bayerischen Landtagsmehrheit änderte nichts daran, dass das GG wie vorgesehen in Kraft treten konnte: Denn dazu reichte es aus, wenn zwei Drittel der westdeutschen Landtage zustimmten.
Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung sind die Grundrechte in den ersten 20 Artikeln des GG ausdrücklich aufgeführt. Mit der veränderten Stellung des Staatsoberhauptes und der Bundesregierung folgte der Parlamentarische Rat den Beschlüssen von Herrenchiemsee.
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 43 bei. Es wäre auch möglich gewesen, eine neue Verfassung zu erarbeiten, was sicher viel Zeit gekostet und auch Befürchtungen hervorgerufen hätte, auf welchen Weg sich wohl das Erfolgsmodell Bundesrepublik Deutschland (Eckhard Jesse) begeben werde. In den Verfassungsberatungen hätte sich m.E. ein linkspopulistischer Katalog an Forderungen offenbart, der traditionelle sozialdemokratische Ideen mit den angeblichen "Errungenschaften der DDR" verknüpft und die freiheitlichen, konservativen und christlichen Inhalte zumindst in die Defensive gebracht hätte. Eine groß angelegte Verfassungsdebatte in den Medien wäre gefolgt, die von der notwendigen schwierigen Regierungsarbeit nur abgelenkt hätte. Ein stärker links ausgerichtetes GG hätte erneut Enttäuschungen hervorgerufen, weil seine sozialen Inhalte nicht zu verwirklichen gewesen wären. Ein Recht auf Arbeit kann z.B. nicht so umgesetzt werden, dass die Arbeitslosigkeit dauerhaft auf den Nullpunkt zurückgeführt werden könnte.
Hingegen wäre ein Volksabstimmung über das 1948/49 geschaffene Grundgesetz aus demokratietheoretischen Gründen und zur Integration der Deutschen in den östlichen Bundesländern hilfreich gewesen.
Die Bevölkerungsmeinung
Beiträge über das Grundgesetz werden zumeist von Juristen verfasst. Doch auch für Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler ist die Auseinandersetzung mit dem Thema reizvoll, denn die Akzeptanz einer Verfassung durch die Bevölkerung besitzt ihre Relevanz. Im Mai 1955 fragte das Institut für Demoskopie, Allensbach: "Was sagen Sie eigentlich zu unserer heutigen Verfassung - ich meine unserem Staats-Grundgesetz: Finden Sie es im großen und ganzen gut oder nicht gut - oder haben Sie sich dafür noch nicht so interessiert?" 30 Prozent der Befragten antworteten "gut", 14 Prozent waren unentschieden, für "nicht gut" entschieden sich fünf Prozent, während rund die Hälfte das GG nach eigener Einschätzung zu wenig kannte. Zugleich zeigte sich, dass sich Männer erheblich stärker für Politik interessierten als Frauen, und daher die Antworten nach Geschlechtern sehr differierten: So fanden 42 Prozent der Männer das GG "gut", aber nur 19 Prozent der Frauen. 34 Prozent der Männer, aber zwei Drittel (66 Prozent) der Frauen erklärten, dass sie die Verfassung zu wenig kannten. Ein Jahr später waren die Daten kaum verändert (2).
Im Herbst 1968 fragte Allensbach, "Das GG ist ja vor 20 Jahren unter Aufsicht und Kontrolle der Alliierten entstanden. Deshalb meinen manche, wir Deutschen sollten ein neues Grundgesetz schaffen, das besser unseren Bedürfnissen und Interessen entsprich. Andere sagen dagegen, das bisherige Grundgesetz hat sich so bewährt, dass wir kein neues brauchen. Welcher Meinung sind Sie?"
Hier zeigte sich eine hohe Akzeptanz des Grundgesetzes in der Bevölkerung. Nur 26 Prozent hätten gerne ein neues Grundgesetz gesehen, 43 Prozent meinten, dass die Bundesrepublik kein neues brauche, 31 Prozent waren unentschieden. Dabei war die Zahl der unentschiedenen Frauen doppelt so hoch wie die der unentschiedenen Männer. Der Wunsch nach einem neuen GG war im bürgerlichen Milieu schwach ausgeprägt (nur jeder fünfte CDU/CSU-Anhänger und jeder vierte FDP-Anhänger antwortete dementsprechend), während jeweils die Hälfte ein neues GG ablehnte. Eine relative Mehrheit von Sozialdemokraten war zwar vom GG überzeugt (43 Prozent), doch war es fast jeder Dritte (33 Prozent), der sich für eine neue Verfassung aussprach. Unentschieden waren jeweils 26 Prozent der SPD- und der FDP-Anhänger sowie 29 Prozent der CDU/CSU-Orientierten. Völlig anders hingegen, und damit symptomatisch für die rechtsextremistisch motivierte Ablehnung des politischen Systems, war die Haltung der NPD-Anhänger. 47 Prozent wünschten ein neues GG, 44 Prozent wollten das bisherige Grundgesetz behalten, und nur neun Prozent waren unentschieden (3).
In den 1970er Jahren stieg die Zustimmung zum Grundgesetz an. "Manche sagen: Die im Grundgesetz festgelegten demokratischen Verhältnisse sind in unserem Staat nicht befriedigend. Um zu einer wirklichen Demokratie zu kommen, muss man das ganze System verändern und ein neues Grundgesetz schaffen.
Wollen Sie das auch oder wollen Sie das nicht?"
Im April 1972 wollten 49 Prozent keine Systemveränderung durch ein neues Grundgesetz, 23 Prozent wollten dies und 28 Prozent waren unentschieden. März 1974 wollten 61 Prozent kein neues Grundgesetz, 19 Prozent wollten eines, 20 Prozent waren unentschieden. Juli 1975 wollen bereits 70 Prozent keine neue Verfassung, nur jeder Zehnte wünschte eine andere Ordnung, und jeder Fünfte war unentschieden. Ähnlich wurde die Frage 1976 und 1989 beantwortet (4).
Was nicht überraschen mag: Ganz anders waren die Einstellungen in der untergehenden DDR. Nur 16 Prozent wünschten im März 1990 eine rasche Übernahme des Grundgesetzes, 75 Prozent dagegen eine verfassungsgebende Versammlung. Ob eine solche neue Verfassung den Bürgern zur Volksabstimmung vorgelegt werden sollte, war hingegen stark umstritten (etwa zur Hälfte ja und nein). In den alten Ländern fand eine Volksabstimmung im Juni 1991 wenig Anklang (27 Prozent: dafür, 72 Prozent dagegen). Im Oktober 1990 waren 65 Prozent der Befragten der Ansicht, Art. 43 (Beitritt) sei die schlechtere von beiden Lösungen. Vielmehr müsse eine verfassunggebende Versammlung gebildet werden. Auch wenn die Wiedervereinigung dann länger dauert und vielleicht erst in 24 Monaten kommt, solle nichts überstürzt werden. Demgegenüber forderten 28 Prozent den Beitritt nach Art. 43 (5).
Durch welche neuen Verfassungszusatz-Forderungen unterschieden sich die Deutschen aus den östlichen Bundesländern besonders stark von den Westdeutschen? Insbesondere bezüglich des Rechts auf Arbeit (85 Prozent: ja, drei Prozent nein) und des Rechts auf Wohnung (90 Prozent ja, drei Prozent nein). Dies verdeutlicht einmal mehr das Interesse der Ostdeutschen an sozialen und nicht nur (oder weniger) an Freiheitsrechten. Im November 1996 meinten sogar 33 Prozent der Westdeutschen und 58 Prozent der ehemaligen DDR-Bewohner die angeblich versäumte Überarbeitung des Grundgesetzes habe die Einheit belastet (6).
Im Laufe der Jahre wuchs die Akzeptanz des Grundgesetzes auch in den östlichen Bundesländern. Die Meinung, ein eine neue Verfassung wäre angebracht, sank dort von 58 Prozent (1991) auf 41 (2009), während die Ansicht, "wir brauchen kein neues GG" von 18 auf 38 ebendort stieg - bei 24 (1991) und 21 (2009) unentschiedenen. In Westdeutschland hielt sich der Wunsch nach einem neuen Grundgesetz in Grenzen: dies wünschten 1991 26 und 2009 22 Prozent, ein neues GG lehnten 1991 59 und 2009 63 Prozent ab. Außerdem waren sich die Westdeutschen in ihrer Meinung sicherer (jeweils 15 Prozent Unentschiedene) (7).
Schlussbemerkung
Insgesamt hat sich das GG m.E. in Bezug auf bürgerliche Freiheit und in Bezug auf die Stabilität der Bundesrepublik sehr gut bewährt: sicher besser, als es 1948/49 allgemein erwartet wurde.
1 Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bd. 1 1947-1955,
Allensbach 1956, S. 157.
2 Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bd. 2, Allensbach 1957,
S. 165.
3 Elisabeth Noelle-Neumann: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie Bd. 4 1968-1973, S. 225.
4 Dies. (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie Bd. 5 1974-1976, S. 72.
5 Dies. /Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie Bd. 9: 1984-1992, München [et
al.], Allensbach 1993, S. 564-567.
6 Dies./Renate Köcher: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie Bd. 10: 1993-1997, S. 558.
7 Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 12: Die Berliner Republik, Berlin 2009, S. 21.
© Stefan Winckler
"Mehr Demokratie wagen!" Vorschläge zu einer Parteienreform
Die Unzufriedenheit der Bürger mit der „politischen Klasse“ (Hans Herbert von Arnim) ist nach wie vor hoch. Sie, und nicht die Bürger, hat die Vertrauenskrise verursacht, die als Parteien- oder Politikerverdrossenheit bezeichnet wird und sich unter anderem in einer gesunkenen Wahlbeteiligung bemerkbar macht.
Es bieten sich folgende Strukturelle Maßnahmen an, um Filz und Verkrustung in den Parteien zu minimieren und um die Berufspolitiker näher an die Bürger heranzuführen:
Kumulieren und panaschieren: Der Wähler hat drei Stimmen zur Verfügung, die er auf einen einzigen Kandidaten häufen (kumulieren) oder auf mehrere Kandidaten auch aus verschiedenen Listen verteilen kann (panaschieren). Dieses Wahlrecht, das bei den Kommunalwahlen in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz sowie den östlichen Bundesländern angewandt wird, trägt tendenziell der Persönlichkeit des einzelnen Kandidaten Rechnung.
Begrenzung der Amtszeit des Parteivorsitzenden auf höchstens zehn Jahre
Begrenzung von Ämtern pro Person: Je weniger Ämter ein Politiker hat, desto intensiver und damit glaubwürdiger kann er sie ausfüllen. Drei Parteiämter pro Person genügen. Die Konkurrenz innerhalb der Partei würde verstärkt, gerade auch zum Vorteil der „Basis“
Unvereinbarkeit vom Amt des Regierungschefs und des Parteivorsitzenden
Trennung von Ministeramt und Abgeordnetenmandat
Die beiden letzten Vorschläge sind gerade auch aus demokratietheoretischer Sicht zu begrüßen, denn die drei Gewalten sind derzeit nicht mehr strikt getrennt, sondern ineinander verschränkt. Die Kontrolle der Exekutive würde verstärkt, mehr Wettbewerb und neue Ideen würden zutage gefördert, wenn der Parteivorsitzende nicht gleichzeitig Parteilinie und Koalitionskompromiss vertreten muss.
Die Mitglieder sollten zu sehr wichtigen politischen Themen befragt werden können – der Mitgliederentscheid der SPD zur Frage der Koalition 2013 ist in Erinnerung. Dies darf freilich nicht in ein imperatives Mandat ausarten. Denn inwieweit das Ergebnis verbindlich sein soll, ist von Fall zu Fall zu bestimmen. Durch diese Befragungen würde einer gewissen Oligarchie der Parteiführung entgegengewirkt, zumal nicht nur die Führung, sondern auch die Masse der Mitglieder das Recht haben sollte, diesen Akt der direkten Demokratie zu initiieren. Der Pluralismus innerhalb einer Partei würde stark gewinnen.
Wie können die oben aufgeführten Maßnahmen rechtlich fixiert werden?
Parteisatzungen bieten die Möglichkeit, die parteiinternen Reformen abzusichern. Die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat sowie die Amtszeitbegrenzung des Regierungschefs können in den Landesverfassungen bzw. dem Grundgesetz festgelegt werden.
Es liegt an den Parteien selbst, sich zu ändern, wenn das politische System der Bundesrepublik Deutschland stabil und leistungsfähig bleiben soll.
Literatur
Hans Herbert von Arnim: Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben. München 1997
CDU Rheinland-Pfalz: Leitsätze zur Kandidatenauswahl 1989
© Stefan Winckler
Reform des Parteienstaats (verfasst 2000)
Flug- und Finanzaffären führen zu Fragen an die Inhaber der Macht. Selbst die Bestseller-Erfolge von Autoren, die Missstände in Parteien – oder die Macht der Parteien in Staat und Gesellschaft ganz allgemein – beschreiben, sind Belege für Unzufriedenheit.
Elemente der direkten Demokratie – von denen nicht nur der bayerische Innenminister, sondern neuerdings auch der Generalsekretär der SPD spricht, könnten teilweise Abhilfe schaffen. Um eine Wahlmüdigkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, sollte die direkte Demokratie nicht uferlos ausgedehnt werden. Doch stehen zuweilen Entscheidungen von großer bundesstaatlicher Tragweite an, bei denen ratsam erscheint, das Volk abstimmen zu lassen – wie es in manchen anderen europäischen Ländern üblich ist. Für plebiszitäre Elemente und direkte Demokratie spricht fraglos, dass die Bürger gegenüber 1949 – dem Jahr der Verabschiedung des Grundgesetzes – erheblich an demokratischer Erfahrung und Reife gewonnen haben.
Auch andere Möglichkeiten einer Demokratie-Reform werden erörtert. Immer wieder rückt dabei das Wahlrecht ins Blickfeld. Sollte das mehrheitswahlreicht eingeführt werden, wie es Thomas Kielinger oder Hans Herbert von Arnim empfehlen? Weniger einschneidend, dafür demokratietheoretisch begrüßenswert erscheint hingegen eine Wahlrechtsänderung, die das Kumulieren und Panaschieren von Stimmen erlaubt. Der Wähler hat drei Stimmen zur Verfügung, die er auf einen einzelnen Kandidaten häufen (kumulieren) oder auf mehrere Kandidaten auch aus verschiedenen Listen verteilen kann (panaschieren). Dieses Wahlrecht, das bei den Kommunalwahlen in einigen Bundesländern angewandt wird, trägt der Persönlichkeit des einzelnen Kandidaten Rechnung. Der Wähler kann die Reigenfolgte auf der „starren“ Liste nach seinem Gutdünken durchbrechen und seine Favoriten auf bessere Plätze schieben beziehungsweise andere Kandidaten nach unten drücken. Beispielsweise hätten Kandidaten, deren Qualitäten die Bürger anerkennen, die aber auf der Liste wenig aussichtsreich platziert sind, bessere Chancen. Denn Ehrlichkeit ist nicht nur im persönlichen Umgang miteinander eine Tugend, sondern auch eine Charaktereigenschaft, die die Wähler vermutlich auf dem Stimmzettel honorieren. So wären 1990 und danach viele Wähler bereit gewesen, Steuer- und Abgabenerhöhungen zugunsten des Aufbaus Ost zu akzeptieren, wenn zumal sie bereits mit hohen Kosten für die Überwindung des „real existierenden“ Sozialismus gerechnet hatten. Als Helmut Kohl jedoch entgegen seiner Wahlkampfaussage den Solidaritätszuschlag einführte und ihn mit dem Kostenbeitrag für den Golfkrieg begründete, fühlten sich viele Wähler „verschaukelt“.
Gegenstand der Kritik an der „politischen Klasse“ waren – schon lange vor den gegenwärtigen Affären – Fragen der Finanzierung. Abgeordnete bestimmten über die Höhe ihrer Diäten und Pensionen. Wäre es nicht besser, wenn die Rechte eigenständiger Institutionen wie des Bundesrechungshofes und der Landesrechnungshöfe über de Rechnungsprüfung hinaus erweitert würden, und diese Institutionen über die Höhe der Abgeordnetenbezüge entscheiden würden?
Die Defizite der Parteien sind nicht nur struktureller, sondern auch programmatischer Natur. Viele Bürger Häufig gilt eine Kritik an der Europäischen Union als Staatenverbund bereits als „anti-europäisch“, Kritik an einer Erweiterung der Rechte von Homosexuellen als „homophob“, eine Kritik am Feminismus als „frauenfeindlich“, dies und jenes als „rechts“ im Sinne von „rechtsextrem“ oder gar als NS-affin. Die „political correctness“ hat verheerend auf das Debattenklima gewirkt. Hier ist es notwendig, dass die großen Parteien Sachlichkeit bewahren. Nur so können wahrhaft unfähige, extremistische Parteien klein gehalten werden, die Bedenken der Bevölkerung für sich zunutze machen wollen, weil sie selbst nichts Konstruktives zu bieten haben.
Die Politiker selbst sollten in die Offensive gehen und das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen, indem sie sich zu Dienern der Gemeinschaft machen. Deutschland braucht eine große Politik-Reform: mehr Demokratie durch mehr Bürgernähe.
© Stefan Winckler
Wege aus der Parteienkrise (1998, aktualisiert)
Sind die Parteien noch zu retten?
Ja, wenn sie Reformen auch an sich selbst durchführen
mit dem Ziel, sich dem zu nähern,
was sie vertreten wollen: dem Volk.
Jürgen Dittberner, Prof. für Politikwissenschaft
Die Parteien sind ins Gerede gekommen, und das in hohem Maße, seit langem. Seit der „Parteienschelte“ des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker sind 22 Jahre vergangen, in denen das Vertrauen in die politischen Parteien noch weiter zurückging. Das Bedauerliche ist m.E., dass die Parteien mit ihren zum grössten Teil lediglich zahlenden Mitgliedern und dem sehr viel kleineren Anhang ehrenamtlicher Wahlhelfer Zielscheibe von Angriffen wurden, obwohl es doch die Berufspolitiker waren, die das einst hohe Vertrauen verspielten.
Ein Blick zurück: In den 1970er Jahren, vor dem Aufstieg der Grünen, hatten radikale Parteien wie die DKP und die NPD äußerst magere Ergebnisse erzielt. Zu recht war das Vertrauen der Bürger in die Problemlösungskompetenz der Bundestagsparteien insgesamt groß. Die Parteien der „classe politique“ (Hans Herbert von Arnim) konzentrierten daher fast 100 Prozent der Wählerstimmen auf sich.
Als Indikatoren für die seit Jahren bestehende Krise der politischen Klasse sind zu nennen
die stark gesunkene Wahlbeteiligung auf allen Ebenen
Protestwahl radikaler Parteien
Mitgliederschwund in den Parteien
der mittels Umfragen messbare Vertrauensverlust, mit dem die Parteien als Institutionen konfrontiert werden
die breite und auch kommerziell erfolgreiche Thematisierung der politischen Klasse, etwa durch Hans Herbert von Arnim
Zunächst aus staatsbürgerlichem Pflichtgefühl, später auch aus Gründen der demokratischen Partizipation war die Wahlbeteilung in der frühen Bundesrepublik sehr hoch: Abgesehen von der ersten Bundestagswahl 1949, die wir wegen ihres Ausnahmecharakters von der Analyse ausschließen, belief sich die Wahlbeteiligung zum Bundestag vor der Wiedervereinigung auf durchschnittlich 87,9 Prozent. Sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl blieb die Wahlbeteiligung allerdings unter 80 Prozent (76, 3 bzw. 79,0 Prozent, wobei die Werte in den östlichen Bundesländern hinter denjenigen des Westens klar zurückblieben). Ähnlich verhielt es sich mit der Beteiligung an Kommunalwahlen und den Landtagswahlen.
Der Protest gegen die politische Klasse äußert sich auch in der Wahl von radikalen Parteien wie der NPD und der DVU, die mangels Sachkompetenz nicht als Alternativen anzusehen sind. Sie erhielten nicht etwa wegen einer Nazi-Affinität mehrfach über fünf Prozent auf Landesebene, sondern weil sie als „Anti-Parteien-Parteien“ und Protestparteien der politischen Klasse am meisten zuwider erschienen.
Die Parteien verlieren seit geraumer Zeit Mitglieder. Zwar ließe sich einwenden, auch die Verbundenheit vieler Menschen mit Kirchen und Gewerkschaften nehme seit Jahren ab, darüber hinaus sei ein Wertewandel – auch als Werteverfall bezeichnet – festzustellen. Doch ist dies kein ausreichendes Argument, um die Parteienkrise zu relativieren.
Am 31.12.1990 verfügten die großen Parteien über folgende Mitgliederzahlen (Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2013. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 20, S.1.)
SPD 943 402
CDU 789 609
CSU 186 198
FDP 168 217
Grüne 41 316
PDS 280 882
Eine Umfrage der Deutschen Presseagentur vom Dezember 2013 bei den einzelnen Parteizentralen (www.tagesschau.de/inhalt/spd-mitglieder112.html) ergab ein stark gewandeltes Bild im Vergleich zum Wiedervereinigungsjahr 1990:
SPD 474 820
CDU 468 329
CSU 148 000 (ca.)
FDP 57 275
Grüne 61 579
Linke 63 784
In Westdeutschland verlor die CDU von 1990 bis 2012 33,8 Prozent ihres Mitgliederbestandes, die SPD 50,5, die CSU 20,5, die FDP 28,7 und die PDS bzw. die Linke 38,7 Prozent, während lediglich die Grünen 38,4 Prozent hinzugewannen. In Ostdeutschland verlor die CDU 68,2 Prozent, die SPD (von einen äußerst geringen Niveau 1990) 6,2 die FDP 92,3 (!) und die PDS/Die Linke 85,9 Prozent. Die Grünen gewannen zwar Mitglieder, doch ist deren Stand in den östlichen Bundesländern mit weniger als 4000 nach wie vor marginal.
In Ostdeutschland waren bei CDU und FDP deswegen besonders viele Austritte zu verzeichnen, weil deren frühere Blockpartei-Mitglieder sich zum großen Teil von der jeweiligen gesamtdeutschen, aber westdeutsch dominierten Partei trennten.
Die Grünen stellen einen Sonderfall dar, da sie 1990 nach Jahren der Zerstrittenheit und dem Image der Radikalität nur für einen kleinen Teil der Wähler attraktiv erschienen und am 2. 12.1990 den Einzug in den Bundestag verfehlten. Sie waren kaum jemals eine Partei mit vielen Mitgliedern, und 1990 ohnehin noch mit dem Image der Radikalität und Zerstrittenheit ausgestattet, so dass deren Zahlen wenig über das gesamte Parteiensystem aussagen. Um so deutlicher erscheint der Verlust an Mitgliedern der großen „Mitgliederparteien“ CDU, SPD und mit Abstrichen der CSU. Dabei erscheint bemerkenswert, dass die SPD selbst in ihrem Kernland NRW ungefähr ihren halben Mitgliederbestand einbüßte.
Die Parteien belegen in den Umfragen nach den vertrauenswürdigsten Institutionen mindestens seit zwei Jahrzehnten den letzten Platz. So erklärten nur 16 Prozent der Deutschen einer GFK-Umfrage zufolge, sie vertrauten den Parteien (vgl. „Die Welt“, 6.2.2013, www.welt.de/wirtschaft/article11342065/Diesen-Institutionen-vertrauen-die Deutschen.html).
Gleichlautende Fragestellungen ergaben zwischen 1991 und 2010 stets, dass die Deutschen den Parteien auf einer Skala von – 2 („überhaupt kein Vertrauen in Parteien“) und +2 („vertraue Parteien voll und ganz“) mit geringen Schwankungen zwischen – 1 (eher kein Vertrauen) und 0 („teils, teils) einstufen, vornehmlich zwischen -0,5 und 0 (Oscar Gabriel: Einstellung der Bürger zu den politischen Parteien. In: Oskar Niedermayer: Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 325)
Erinnern wir uns an die frühen 1980er Jahre, als die Bundesregierung aus SPD und FDP zunehmend die Problemlösungskompetenz einbüßte. Davon profitierte die CDU als Volkspartei der Mitte und die Grünen als alternative, eindeutig linke Partei mit Umweltschutzkompetenz. Heute kommt einer parlamentarischen Oppositionspartei das Vertrauen, das die Koalition verliert, nicht mehr stark zugute. Heute ist der Anteil der Befragten, die keiner politischen Partei eine Lösung bestimmter Probleme zutrauen, erheblich. Auf die Frage, „Welcher Partei trauen Sie am ehesten die Bewältigung der Wirtschaftskrise zu?“, antworteten 30 Prozent: „keiner“ oder „ich weiß nicht“
(de.statista.com/statistik/daten/studie/13080/umfrage/beurteilung-der-problemloesungskompetenz-der-parteien/).
Diese Defizite der Parteien sind nicht typisch deutsch, sondern sind in benachbarten europäischen Staaten ebenso, wenn nicht noch stärker, nachweisbar.
Welches sind die Gründe für die derzeitige, seit langem nachweisbare Distanz der Bevölkerung zu den Parteien? Eine antidemokratische, oder genauer: antiparlamentarische Einstellung, wie sie den Deutschen der Weimarer Republik zugeschrieben wird, kann es kaum sein, denn political culture-Forschung kann die freiheitlich-demokratische Durchdringung der Deutschen vor allem in den letzten fünf Jahrzehnten überzeugend belegen.
Sind es die Medien, die mit Skandalgeschichten die Parteien in den Schmutz ziehen? Da nur etwa drei Prozent der Bürger in Parteien organisiert sind, fehlt den allermeisten Bürgern die Primärerfahrung der Parteiarbeit. Sie sind entweder auf die Informationen angewiesen, die ihnen Parteimitglieder über ihr politisches Wirken geben, oder- sehr viel häufiger – der Sekundärerfahrung ausgesetzt, die die Massenmedien anbieten. Da die Medien bevorzugt negative Meldungen veröffentlichen, vermittelt sich den Bürgern eher ein schlechtes als ein gutes Bild von den Parteien.
Doch dieser Erklärungsansatz kann nur ein Zusatz zu einer Analyse über Strukturen des Parteienstaates und der Akteure in den Parteien sein.
Am eigentlichen Untersuchungsobjekt, bei den Parteien selbst, muss die Ursachenforschung ansetzen. Schließlich sind die Nachrichten über die Parteien in den seltensten Fällen frei erfunden. Spätestens seit der Studie von Scheuch und Scheuch (Cliquen, Klüngel und Karrieren, Reinbek 1992, Neuauflage 2013) wissen wir sogar, dass zahlreiche geheime Absprachen über die Aufteilung von Ämtern nur in den seltensten Fällen der Öffentlichkeit bekannt werden.
Gründe für die Kritik an der politischen Klasse sind: Parteifunktionäre haben entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der Rundfunkräte, Direktorenposten in Schulen, Sparkassen und Behörden, was sich durch keinen Verfassungsartikel rechtfertigen lässt. Die Gesellschaft ist damit zur Beute der Parteien geworden. Der Bürgerwille wird dabei oft missachtet. Auf Missfallen stößt angesichts der ständigen Sparzwänge allenthalben, dass die Abgeordnetendiäten nicht nur steigen, sondern dass die Berufspolitik offenbar ohne das Gefühl der Befangenheit ihre eigenen Bezüge festlegen.
Immer wieder kam es vor, dass sich Bundestag und Bundesrat gegenseitig entgegen ihrem Verfassungsauftrag blockieren, nicht nur aus fachlichen Gründen. Dringend nötige Vorhaben bleiben liegen, damit Spitzenpolitiker mit einer vermeintlich guten Ausgangsposition in den Wahlkampf starten können.
Themen, die für die Bevölkerung von großer Wichtigkeit sind, wie Einwanderung und innere Sicherheit werden unter den Verdacht gestellt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu fördern, und kommen daher zu wenig zur Sprache. Im Gegenteil: Kritik an der Praxis der Europäischen Union ist selten von den Parteien zu hören, innerhalb der Bevölkerung allerdings häufig. Statt der Debatte um Sachthemen sind nichts sagende Slogans im Wahlkampf zu lesen und zu hören. Minderheitenthemen wie die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe (die nur sehr wenige Personen betreffen) nehmen breiten Raum ein.
Alles in allem erscheinen Berufspolitiker nicht als Diener der Gesellschaft, sondern als selbstbezogene, abgehobene Klasse, wobei „Klasse“ hier im soziologischen Sinne gemeint ist und nicht als Qualitätsmerkmal. Folge ist zum Teil Verdrossenheit an der Politik selbst, mehr noch an deren Akteuren und ansatzweise am politischen System.
Diese Gegebenheiten fordern eine Debatte heraus, schließlich sind Parteien sehr wichtige Institutionen des Staates: Sie sind in Art. 21 GG als Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufgeführt. Das Parteiengesetz von 1967 präzisiert:
„Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe“
„Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerber an den Wahlen im Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen“.
Sinnvoll angesichts der Kritik erscheint eine Beschränkung von öffentlichen Ämtern und Parteiämtern pro Person: Je weniger Ämter ein Politiker hat, desto intensiver und damit glaubwürdiger kann er sie ausfüllen. Die CDU Rheinland-Pfalz beschloss auf ihrem Parteitag in Mainz-Finthen September 1989, die Zahl der Parteiämter pro Person auf drei zu begrenzen. Ebenso soll eine Person höchstens drei öffentliche Ämter innehaben dürfen. Tatsächlich kommt es aber häufig vor, dass Landtagsabgeordnete gleichzeitig Mandatsträger auf kommunaler Ebene sind, um damit ihre erneute Nominierung zu sichern und /oder andere Karrierechancen offenzuhalten bzw. um eine „kommunale Führungsposition“ abzusichern. Die politische Klasse könnte an Ansehen gewinnen, wenn sie sich des Grundsatzes der „Gewaltenteilung“ nicht nur in Sonntagsreden erinnern würde.
Konkret denke ich an eine Trennung von Parteiamt und politischem Mandat. Wenn nämlich der Regierungschef in einer Koalition gleichzeitig Parteivorsitzender ist, befindet er sich in einer etwas schizophrenen Situation: Er steht für die Ideen seiner Partei ebenso wie für den Koalitions-kompromiss. Wäre es nicht besser, der Parteivorsitzende ist ein Vordenker, der Grundsätze und ein scharfes Profil verkörpert, und so der Koalition zuarbeitet? Am ehesten bietet sich für ihn der Posten des Fraktionsvorsitzenden an. Diese Reform erscheint auch demokratietheoretisch wünschenswert, da der Grundsatz der Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative eine Verschränkung der ausführenden und der gesetzgebenden Gewalt verbietet. Insofern darf das Abgeordnetenmandat (eigentlich) nicht mit einem Ministeramt vereinbart sein. Eben dies beschloss der Landesparteitag der rheinland-pfälzischen CDU 1989 unter dem Vorsitzenden Hans Otto Wilhelm; des weiteren sollte die Amtszeit des Ministerpräsidenten und des Landesvorsitzenden auf maximal zehn Jahre begrenzt werden sowie – wie oben genannt – das Ministeramt und Abgeordnetenmandat unvereinbar sein. Die letzten beiden Vorschläge fanden aber nicht die Unterstützung von SPD und FDP, die zur Verfassungsänderung notwendig gewesen wäre. Jüngere Leute und Frauen sollten verstärkt berücksichtigt werden.
Dieses Maßnahmenpaket wurde bezeichnenderweise erst geschnürt, nachdem die CDU Rheinland-Pfalz ihre „Alleinherrschaft“ nach der Landtagswahl 1987 mit der FDP teilen und schwere Verluste bei den Kommunal- und Europawahlen 1989 hinnehmen musste. Zwar entsprach das schwache Ergebnis dem Bundestrend und lag auch an Helmut Kohl. Doch gleichzeitig stand Parteichef Wilhelm in der Kritik, da seine Kandidatur zum Landesvorsitzenden den Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden Bernhard Vogel zu Fall brachte und dessen Nachfolger Carl-Ludwig Wagner die landesväterliche Ausstrahlung eines Kohl und Vogel nie erreichte
Verbesserungswürdig ist die innerparteiliche Kommunikation als Voraussetzung für innerparteiliche Demokratie. Angenommen, ein „Außenseiter“, der beispielsweise durch seine berufliche Erfahrung und persönliche Integrität zur Übernahme eines Amtes befähigt erscheint, möchte kandidieren, ist aber noch nicht lange Parteimitglied. Wie soll er sich gegen die etablierte Parteiführung (und deren Favoriten) durchsetzen, wenn er kein Recht auf den Zugang zur Mitgliederliste hat und sich erst spät auf einem Nominierungsparteitag vorstellen kann? Auch warnt die Parteitagsleitung oft vor einer allzu offenen Diskussion, da sonst der Eindruck mangelender „Geschlossenheit“ in der Öffentlichkeit entstünde (betrifft v.a. CDU und CSU). Lobenswert ist hingegen, einen Kreisparteitag „mitgliederoffen“ zu gestalten, also nicht nur mit Delegierten zu beschicken. Mitgliederbefragungen zu einzelnen Sachthemen oder zu Personalentscheidungen entsprechen freiheitlich-demokratischem Grundsätzen, im Gegensatz zu Quotenregelungen. Dies darf freilich nicht in ein imperatives Mandat ausarten, das im Gegensatz zum freien Abgeordnetenmandat steht.
Prekär ist es insbesondere, wenn ein Abgeordneter nicht nur seinen Wahlkreis im Parlament vertritt, sondern auch einem Verband – Wirtschaftsverband, Berufsverband, Gewerkschaft usw. – als führender Funktionär angehört und so zum Diener zweier Herren wird. Von Relevanz ist dieses Problem, denn im Bundestag bilden Lobbyisten nach den öffentlich Bediensteten die grösste Gruppe unter den Parlamentariern. Natürlich ist den Parteien an guten Beziehungen zu den oft mitglieder- oder finanzstarken Verbänden gelegen, was an dieser Stelle sicher nicht weiter erläutert werden muss. Hier wäre eine Unvereinbarkeitsregelung angebracht. Ebenso sollte es unmöglich sein, dass ein Politiker „nebenbei“ noch in einem oder mehreren Aufsichtsräten sitzt.
Oder ist nach US-amerikanischem Vorbild zu überlegen, der Öffentlichkeit und deutlich weniger den Parteifunktionären den Einfluss auf die Kandidatenrekrutierung zu überlassen? In den USA geschieht dies entweder in Urwahlen durch Versammlungen auf Ortsebene im ganzen Staat, wo sich die einzelnen Kandidaten in Debatten zu bewähren haben ("Caucuses"). Häufiger sind "Primaries", d.h. solche Vorwahlen, in denen entweder alle Wähler über den Kandidaten einer Partei abstimmen ("open primaries", wie in 19 US-Bundesstaaten), oder jene Vorwahlen, in denen nur die Parteimitglieder abstimmen ("closed primaries"). Letztere Idee, in 25 amerikanischen Bundesstaaten praktiziert, erscheint m.E. auch für europäische Staaten überlegenswert, da sie demokratietheoretisch naheliegend, das politische Engagement der "Basis" zuungunsten der Funktionäre fördernd erscheint, und einen allzulangen Vorwahlkampf vermeidet. Hingegen bieten offene Vorwahlen den Gegnern einer bestimmten Partei die Möglichkeit, sich an der Kandidatenwahl zu beteiligen und gezielt den schwächeren Bewerber nach vorne zu puschen. Letzteres führt zudem zu ausufernden Kosten, da sich der Kandidat jedem Wahlberechtigten präsentiert und nicht der überschaubaren Gruppe der Parteimitglieder. Es wäre aber noch zu entscheiden, ob ein solcher Votum der Urwähler nur eine Empfehlung für den Parteitag, der den Kandidaten aufstellt, oder ein verbindlicher Auftrag wäre (freilich: ein Parteitag würde sich kaum über das Votum hinwegsetzen, da er nicht in den Geruch der "Basisferne" geraten möchte). Die Partei Die Grünen bestimmt ihre Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl seit 2013 durch eine Urwahl. So überlegenswert dieser Vorschlag auch erscheint - eine Wende allein kann er wohl nicht bringen. Die Wahlbeteiligung in den USA ist traditionell niedrig, das Vertrauen in "die in Washington D.C." gering.
Das Instrumentarium der direkten Demokratie steht seit Jahren in der Diskussion, in der Debatte um die Macht der Parteien wird es immer wieder angeführt.
Um eine Wahlmüdigkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, sollte die direkte Demokratie nicht massiv ausgedehnt werden, sondern sich weiterhin auf Volksbegehren und Volksentscheid beschränken. So hat sie sich auf Kommunal- und Landesebene bewährt. Allerdings stehen zuweilen Entscheidungen von gesamtstaatlicher Tragweite an, wie die Vertiefung oder Erweiterung der Europäischen Union, und selbstverständlich die Einführung einer europäischen Währung. Angesichts der hohen Relevanz wäre es ratsam, das Volk abstimmen zu lassen, wie es auch andere europäische taten und tun. Auch eine Neugliederung des Bundesgebiets könnte nur über Volksabstimmungen geregelt werden. Für plebiszitäre Elemente und direkte Demokratie spricht auch, dass die Bürger gegenüber 1949 – dem Jahr der Verabschiedung des Grundgesetzes – erheblich an demokratischer Erfahrung und Reife gewonnen haben. Mit einem entsprechenden Votum ausgestattet, könnten sich die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen dem jeweils benachbarten größeren Bundesland anschließen (kleine Lösung). Aber auch die Existenzberechtigung Sachsen-Anhalts, Thüringens und Mecklenburg-Vorpommerns als eigenständige Bundesländer wäre zu hinterfragen, wobei sogar die Vereinigung eines östlichen mit einem westlichen Bundesland ein bemerkenswertes, wenn auch wenig aussichtsreiches Experiment auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands wäre. Bundesländer mit hoher Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sollen hingegen in ihren jetzigen Grenzen bestehen bleiben. Den Reformen auf Landesebene könnte eine Neueinteilung der Bundeswahlkreise folgen, so dass in einem künftigen Bundestag statt 632 Parlamentarier wieder 500 Platz fänden.
Immer wieder wird das Wahlrecht diskutiert. Sollte das Mehrheitswahlrecht eingeführt werden, wie es Hans Herbert von Arnim in seinem Buch „Fetter Bauch regiert nicht gern“ empfiehlt? Weniger weitreichend, dafür aber demokratietheoretisch begrüßenswert erscheint hingegen eine Wahlrechtsänderung, die das Kumulieren und Panaschieren von Stimmen ermöglicht. Der Wähler hat drei Stimmen zur Verfügung, die er auf einen einzelnen Kandidaten häufen (kumulieren) oder auf mehrere Kandidaten auch aus verschiedenen Listen verteilen kann (panaschieren). Dieses Wahlrecht, das bei den Kommunalwahlen in Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg, Hamburg und den östlichen Bundesländern angewandt wird, trägt der Persönlichkeit der einzelnen Kandidaten Rechnung.
Der Wähler kann die Reihenfolge auf der „starren“ Liste nach seinem Gutdünken durchbrechen und seine Favoriten auf bessere Plätze schieben bzw. andere Kandidaten nach unten drücken. Beispielsweise hätten Kandidaten, die auf der Liste wenig aussichtsreich plaziert sind, bessere Chancen.
Fazit
Willy Brandts Slogan „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ sollte zum Motto der politischen Klasse werden. Damit ist gemeint: Volksbegehren und Volksentschiede auf kommunaler Ebene und in den Ländern, Plebiszite zu sorgfältig ausgewählten Zukunftsfragen von besonderer Tragweite, das Kumulieren und Panaschieren von Wahllisten auf allen Ebenen. Parteisatzungen sollen die Trennung von Staats- und Parteiamt und die Begrenzung auf wenige Ämter pro Person beinhalten. Eine Neugliederung des Bundesgebietes mit einer Reduzierung der Länderzahl brächte Einsparungen, da zahlreiche Ämter wegfielen.
Selten kommt es in der Geschichte vor, dass eine Klasse auf Privilegien verzichtet. So einfach es ist, diese Reformen zu beschreiben, so schwierig wäre die Umsetzung. Der Verfasser ist sich sogar darüber im Klaren, dass all diese Forderungen zum größeren Teil nicht durchsetzbar sind, weil sie das "eherne Gesetz der Oligarchie“ (Robert Michels) durchbrechen würden. Es wäre bedauerlich, wenn der Druck durch Links- und Rechtspopulisten oder durch Radikale so groß wird, dass sich die politische Klasse aus existenziellen Gründen zu solchen Reformen gezwungen fühlt.
Literatur
Hans Herbert von Arnim: Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben. München 1996.
Jürgen Dittberner: „Sind die Parteien noch zu retten?“ Entwicklungen, Defizite, Reformmodelle. Berlin 2004.
Erwin K. Scheuch / Ute Scheuch: Cliquen, Klüngel und Karrieren. Reinbek 1992, Neuauflage 2013.