Am 24. August 2016 verstarb Bundespräsident a.D. Walter Scheel im Alter von 97 Jahren. Beim Blick auf sein erfülltes Leben fällt rasch auf: Klischees und Vereinfachungen werden kolportiert,in Wahrheit war vieles komplizierter – was allerdings durchaus zu Ehre Scheels gereicht.
Häufig wurde er als heiterer Rheinländer etikettiert – eine grobe, wenn auch gut gemeinte Vereinfachung. Scheels Wiege stand genau genommen nicht im Rheinland, sondern im Bergischen Land – was in jener Region streng unterschieden wird. Scheel wurde am 8. Juli 1919 in Solingen geboren und ist dort aufgewachsen. Bürgerlich, ja großbürgerlich wirkte er, und doch kam er aus vergleichsweise einfachen, fast ärmlichen Verhältnissen: Sein Vater war Stellmacher, also ein Handwerker, dessen Gewerbe im Aussterben begriffen war, und seine Kindheit fiel in die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg.
Scheel wies zweifellos eine heitere Seite auf, aber zu Recht trug die Festschrift, die Hans-Dietrich Genscher zu seinem Geburtstag herausgab, den Titel „Heiterkeit und Härte“. Den Zweiten Weltkrieg durchlitt Scheel quasi vom ersten bis zum letzten Tag. Während des Russlandfeldzugs erkrankte er lebensgefährlich. Dann folgte eine neue Aufgabe: Als Nachtjäger war er gegen alliierte Bombergeschwader im Einsatz, er erhielt das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse, war zuletzt Oberleutnant der Luftwaffe.
Sehr rasch gelang ihm der Einstieg in die Politik nach Kriegsende. Scheel trat der FDP bei, die seinerzeit vor allem in NRW noch stark deutschnational durchwirkt war und vielen ehemaligen Nationalsozialisten eine neue politische Heimat bot (in Bezug auf einige von ihnen kann das Wort „ehemalig“ gestrichen werden). Scheel fungierte ab 1948 als Stadtrat seiner Heimatstadt und ab 1950 als Landtagsabgeordneter, ab 1953 als Mitglied des Bundestags. Eine wirtschaftliche Grundlage schuf er sich, ausgebildeter Bankkaufmann, als Geschäftsführer und Berater von Unternehmen. Kein Linksliberaler also, und doch war er als Mitglied des Landesvorstands am konstruktiven Misstrauensvotum gegen den christdemokratischen Ministerpräsidenten Karl Arnold zugunsten des Sozialdemokraten Fritz Steinhoff beteiligt: es folgte die erste Koalition aus SPD und FDP (wenn auch nur für zwei Jahre). Die FDP sollte nach Meinung dieser jüngeren Gruppe der Liberalen („Jungtürken“) die dritte Kraft bleiben und nicht zum Anhängsel der CDU verkümmern. Das hinderte Scheel jedoch nicht, den Bundesregierungen Adenauer und Erhard als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit anzugehören (1961-66); das Ressort wurde auf seinen Vorschlag hin geschaffen. Aus jener Zeit datiert die erste Titelgeschichte des „Spiegel“ über Scheel (20/1962). Im Gegensatz zu vielen späteren Ministern war er als Experte ausgewiesen, denn er war als MdEP 1959 bis 1961 „Vorsitzender des Ausschusses für Fragen der Assoziierung der überseeischen Länder und Gebiete“. 1962 trat er zusammen mit den anderen liberalen Bundesministern wegen der „Spiegel“-Affäre zurück. Nach dem Ausscheiden von Franz Josef Strauß aus dem Kabinett kehrte Scheel wieder in das Ministerium zurück, das in seinen Kompetenzen noch stark beschränkt war, mit anderen Worten: das im Schatten des Bundeswirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amts stand. Ziel war es, durch "Hilfe zur Selbsthilfe" die unterentwickelten Staaten in die Weltwirtschaft zu integrieren - gerade auch zum Vorteil der Bundesrepublik selbst.
Ein weiteres Mal wirkte Scheel an einem Regierungswechsel mit – 1966 wandte sich die FDP trotz eines allgemein guten Einvernehmens von Bundeskanzler Ludwig Erhard ab: es folgte die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD, ohne die Liberalen. Als neuer FDP-Vorsitzender ab 1968 war Scheel einer der wenigen Politiker (und der einzige Vorsitzende einer Bundestagspartei), die sich überhaupt in den Universitäten in Diskussionen mit den APO-Studenten blicken lassen konnten. Gewiss keine einfache Aufgabe! Die Hinwendung zu einem sozialliberalen Bündnis hatte freilich nicht nur sachliche Gründe. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts schwebte wie ein Damoklesschwert über der SPD. Herbert Wehner und Helmut Schmidt galten als Befürworter. Eine FDP-Zusage zur Zusammenarbeit mit der SPD half dieses Vorhaben abzuwenden und die Wahlrechtsänderung verschwinden zu lassen. Mit seiner Option für den Bundespräsidentschaftskandidaten Gustav Heinemann (SPD) bahnte Scheel den Weg zur sozialliberalem Koalition. Noch in der Nacht nach der Bundestagswahl im September 1969 kamen Willy Brandt und Walter Scheel überein, trotz knapper Bundestagsmehrheit auf ein Regierungsbündnis aus SPD (zweitgrösste Bundestagsfraktion) und FDP (mit 5,8 Prozent eigentlich ein Wahlverlierer) zuzusteuern. Scheel übernahm das Auswärtige Amt und war Vizekanzler. Sein Start verlief selbst nach Meinung seines freundlich gesonnenen Biografen Arnulf Baring „schwach“. Vielmehr war die Ostpolitik „Chefsache“ Brandts und lag in Konzeption und Praxis in den Händen Egon Bahrs. Vor allem mit Blick auf eine künftige Deutsche Einheit kam es jedoch auf den Außenminister selbst an, den sein sowjetischer Gegenüber Gromyko zunächst ignorierte. Scheels Hartnäckigkeit bei seinen Moskauer Verhandlungen siegte am Ende, und die „Ostverträge“ wurden trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse vom Deutschen Bundestag ratifiziert (1972).
1971 hatten 60 Prozent der Bundesdeutschen einen positiven oder sehr positiven Eindruck von Scheel, 1972 konnte er acht Prozentpunkte mehr für sich verbuchen. Dies ist um so erstaunlicher, da selbst der eher linksliberale „Spiegel“ kurz vor der Bundestagswahl von einem „programmatischen Linksruck“ der FDP schrieb, jener Partei, der in den Jahren des Vorsitzenden Scheel Abgeordnete, Mitglieder und Wähler „davongelaufen“ seien. Totgesagte leben länger, die FDP erzielte im November 1972 ein Bundestagswahlergebnis von 8,4 Prozent und konnte sich zudem in den Koalitionsverhandlungen in wichtigen Punkten durchsetzen: sie erhielt ein zusätzliches Ministeramt (Wirtschaft). In jener Zeit präsentierte sich die FDP als Partei der Mitte gegen sozialistische Umgestaltung einerseits und gegen Franz Josef Strauß andererseits, sowie als Partei der Entspannungspolitik. Auch in dieser Phase, in der etliche Politiker und Journalisten das Bündnis von SPD und FDP als Entente Cordiale betrachteten, wahrte Scheel seine Nüchternheit: „Sozialistische Vorstellungen würden keine Chance haben, in ein Regierungsprogramm aufgenommen zu werden, dem wir zustimmen können“. Helga Schuchardt und Ingrid Matthäus-Maier mögen es anders gesehen haben, aber das „sozialliberale Bündnis“ war für Scheel nie eine historische, langfristige Herzensangelegenheit.
Gesundheitliche Gründe ließen Scheel 1973 über einen Rückzug aus der vordersten Front der politischen Schlachten nachdenken. Er brachte sich als Staatsoberhaupt ins Gespräch, und übernahm das Amt des Bundespräsidenten am 1. Juli 1974. Zu seiner gelungenen Amtsführung gehörte selbstverständlich ein guter Mitarbeiterstab; sein Redenschreiber Michael Engelhard genoss einen hervorragenden Ruf in Bonn, und kehrte nach einer erzwungenen Pause 1985 als Richard von Weizsäckers Chef-Formulierer in die Villa Hammerschmidt zurück. Bundespräsident Walter Scheel konnte sich zwar als großzügiger Repräsentant einer selbstbewussten westdeutschen Demokratie zeigen, doch oblag es ihm auch, die richtigen Worte zum Terrorismus zu finden, insbesondere nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyer. Weit weniger beachtet als die Rede seines Nach-Nachfolgers Richard von Weizsäcker zum 8. Mai war Scheels Ansprache zum 30. Jahrestag des Kriegsendes. Scheel griff den Sinn von Theodor Heuss' Deutung des janusköpfigen Mai 1945 auf: "Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als das Ende kam". Doch vergleichsweise ausführlich und empathisch kam er, einem aufgeklärten Patriotismus verpflichtet, auf den Untergang des Deutschen Reiches zu sprechen: "... am 8. Mai fiel nicht nur die Hitler Diktatur, es fiel auch das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich war kein Werk Hitlers, es war der Staat der Deutschen, das Werk eines großen deutschen Staatsmannes. Es war für Generationen von Deutschen das Vaterland, das wir liebten, wie jeder Mensch auf der Welt sein Vaterland liebt. Sollten wir es weniger lieben, weil sich ein Diktator seiner bemächtigt hatte, oder weil es jetzt zerstört am Boden lag? Und so gedenken wir des Kriegsendes mit Schmerz. Nein, wir Deutsche haben heute keinen Anlaß zum Feiern... Der 8. Mai 1945 ist ein widersprüchlicher Tag in der deutschen Geschichte" (zitiert in: Matthias Rensing: Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949-1984, Münster 1996, S. 161). Wie stand es um die öffentliche Meinung? Im Juli 1974 fanden laut einer Befragung durch das Institut für Demoskopie in Allensbach 21 Prozent der Bundesdeutschen den neuen Bundespräsidenten "ausgezeichnet", 52 Prozent "gut", "einigermaßen" 19 Prozent sechs "weniger" oder "gar nicht", während drei Prozent "kein Urteil" abgaben. Im wesentlichen konnte Scheel die guten Umfragewerte halten, bis es unmittelbar nach dem Ende seiner Amtszeit sogar eine kräftige Steigerung auf 36 Prozent für das Prädikat "ausgezeichnet" gab. Im Juni 1979, Februar 1980 und Januar 1981 stellten die Allensbacher Meinungsforscher die gleiche Frage in Bezug auf den neuen Bundespräsidenten Karl Carstens. Auch wenn dieser seine Werte stetig verbessern konnte, erreichte er in diesem Zeitraum nie die Werte Scheels: "Gut" fanden ihn nacheinander 29, 37 und 39 Prozent der Bundesdeutschen (vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Edgar Piel: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983, Bd. 8, München [u.a.], S. 230).
1979 verfügte die CDU/CSU über eine Mehrheit in der Bundesversammlung. Scheel verzichtete daher auf eine Kandidatur, sein Nachfolger wurde Karl Carstens. 1982 unterstützte Scheel seinen Parteifreund Genscher bei der „Wende“ zurück zu einer Koalition mit der CDU/CSU, auch wenn dies der Öffentlichkeit größtenteils verborgen blieb. In jenen Jahren war Scheel zwar ohne Staats- oder Parteiamt, aber einflussreich. Im kleinen Kreis resümierte der elder statesman mit dem ihm eigenen geistreichen Witz, es gäbe "überhaupt keinen Draht in dieser Bundesrepublik, an dem ich nicht irgendwie gezupft hätte“. Nach 1979 war er unter anderem Präsident der Europa-Union, Vorsitzender der Bilderberg-Konferenz und 1. Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Zuletzt lebte er, altersbedingt schwer erkrankt, in Bad Krozingen im Breisgau.
© Stefan Winckler