Stefan Winckler
Historiker und Buchautor


Ein konsequenter Christdemokrat: Ernst Lemmer (1998)


Einer der Gründer der CDU, Ernst Lemmer, wurde am 28. April 1898 geboren: ein Wahl-Berliner, der als konsequenter Christdemokrat den Extremismus von links und rechts bekämpfte, der sich dem braunen wie dem roten Totalitarismus verweigerte, und der sich als Patriot um die Einheit Deutschlands bemühte. Trotz seiner hohen Regierungsämter und seiner langjährigen parlamentarischen Erfahrung ist er mit all seinen Werten, Einstellungen und Meinungen vergleichsweise wenig erforscht worden, obwohl sein Nachlass einigermaßen umfangreich ist. Er lagert im Archiv für christlich-demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin und umfasst 15 lfm.
Lemmer stammte aus Remscheid. Zum Dienst im Ersten Weltkrieg meldete er sich, noch lange nicht volljährig, freiwillig. Er brachte es, mehrfach ausgezeichnet, zum Leutnant. Um so bemerkenswerter erscheint das Vertrauen, das seine Soldaten in ihn setzten, als sie ihn zum Delegierten in die Reichsversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte wählten, der Ende 1918 in Berlin zusammentrat, während gleichzeitig viele Mannschaften ihre Offiziere degradierten. Besagt die Teilnahme am Reichsrätekongress etwas über seine politischen Werte und Einstellungen? Nicht allzu viel. Lemmer war nicht nach heutigen Maßstäben „links“. So wandte er sich 1918/19 der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zu, einer republikanischen, demokratischen Partei der Mitte. Als gläubiger evangelischer Christ (er studierte nach 1919 unter anderem Theologie im Nebenfach) kam für ihn das Zentrum in den Zeiten der strikten Konfessionsspaltung nicht in Frage. Weitere Fächer an den Universitäten Marburg und Frankfurt waren für ihn Volkswirtschaft und Geschichte. Hauptberuflich war er ab 1922 Generalsekretär der auf Ausgleich statt Arbeitskampf bedachten Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften, die gemäßigt sozial-liberal ausgerichtet waren und seiner Partei nahestanden. Mit dieser Positionierung in der Mitte hatte er die dem Programm nach marxistischen Sozialdemokraten (einschließlich des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes) und das nationalkonservative Milieu gegen sich. „Mitstreiter“ in dieser Partei, die von Friedrich Naumann gegründet wurde und die mit Walter Rathenau einen bedeutenden Kopf der frühen Republik in ihren Reihen hatte, waren Theodor Heuss, die Minister Erich Koch-Weser und Otto Gessler sowie Wilhelm Külz. Nach neun Jahren als Reichstagsabgeordneter kassierten die Nationalsozialisten 1933 sein Mandat. Vor allem auch beruflich hatte er sich umzuorientieren, da sämtliche Gewerkschaften verboten worden oder zum Aufgeben gezwungen worden waren. Unter Hitlers Herrschaft wurde Lemmer zwar nicht inhaftiert, aber überwacht und wiederholt verhört. Er konnte als Journalist arbeiten, aber bezeichnenderweise nicht für inländische Zeitungen.
Als die Sowjetische Militäradministration im Sommer 1945 die Gründung von Parteien erlaubte, waren es die alten Weggefährten aus der DDP Ernst Lemmer, Walter Schreiber und Ferdinand Friedensburg, die zusammen mit ehemaligen Zentrums-Politikern wie Andreas Hermes und Jakob Kaiser am 26. Juni 1945 die Christlich-Demokratische Union Deutschlands gründeten. Kaiser war 1946 Vorsitzender der CDU in der SBZ, Lemmer sein Stellvertreter – zusammen mussten sie auf Weisung der Besatzungsmacht im Dezember 1947 zurücktreten, um einer (in deren Augen) willigeren Führung Platz zu machen. Im März 1949 floh Ernst Lemmer mit seiner Familie aus dem Vorort Klein-Machnow nach Berlin (West). Dort war er Fraktionsvorsitzender der CDU im Abgeordnetenhaus und Ansprechpartner unzähliger Bewohner der "Ostzone". Daneben gab er die Zeitung "Kurier" heraus.
Es ist viel spekuliert worden über das Verhältnis Lemmers zu Konrad Adenauer – und manches wurde wohl ins Negative verzerrt. Zweifellos gab es unterschiedliche  Schwerpunkte. Adenauer setzte kaum Hoffnungen auf Berlin, während Lemmer ein entschiedener Fürsprecher der geteilten Stadt war. Dies wird deutlich anhand der Debatte, wo die CDU ihre Bundesgeschäftsstelle errichten sollte. Lemmer war überzeugt: "Der Weg zur Einigung Europas geht über die Wiedervereinigung Deutschlands" (vgl.: Spiegel, a.a.O., S. 5), während Adenauer es umgekehrt sah. Nicht, dass Lemmer die Westintegration vollends abgelehnt hätte! Er war schon in den 1920er Jahren Paneuropäer. Aber es war die Frage der Reihenfolge und wohl auch der Prioritäten.
Nicht zuletzt stammten beide ja aus unterschiedlichen Parteien der Weimarer Zeit, die ein wenig auch unterschiedliche politische Lager darstellten: hier sozial-liberal und eher protestantisch, dort politisch-katholisch. In jene Zeit fällt auch das Wort des „Alten“, Lemmer, Bundestagsabgeordneter für Berlin,  sei der „rabiateste“ Berliner.
Der erste Bundeskanzler verstand es, innerparteiliche Bedenkenträger und Gegner einzubinden. Lemmer wirkte 1956/57 als Bundespostminister, anschließend bis zum Kanzlerwechsel 1963 – ungleich kompetenter - als Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen. Mit seinen Kenntnissen und Verbindungen war er dafür, umso mehr nach dem Tode Jakob Kaisers, eine ideale Besetzung. In der Bundesregierung Ludwig Erhard wirkte Lemmer bis 1965 als Bundesvertriebenenminister, unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger als Sonderbeauftragter des Bundeskanzlers für Berlin. Ernst Lemmer starb nach schwerer Krankheit am 18. August 1970 in Berlin.
Im Gegensatz zu Jakob Kaiser ist Ernst Lemmer nicht durch spektakuläre Programmentwürfe hervorgetreten. Was ihn auszeichnete, war seine Beständigkeit als Demokrat (ablesbar an seiner Mitwirkung im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold) – ungeachtet des Zeitgeistes von "Weimar", trotz der wachsenden Verdrossenheit an der parlamentarischen Demokratie, die ja gerade auch durch die dahin schmelzende Mitte angezeigt wurde.
So eindeutig Lemmer Radikale ablehnte, so kooperativ war sein Umgang mit Politikern aus anderen Parteien. Seine Freundschaften mit Gustav Heinemann und Theodor Heuss beweisen das.

 

 

Literatur

 

 

N.N.: Ernst Lemmer. Zwischen Maas und Oder. In: "Der Spiegel", 14.11.1951, S. 5-7.

Ernst Lemmer: Manches war doch anders. München 1996 (Erstauflage 1968)
Ludwig Luckemeyer: „Lemmer, Ernst“, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 187 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118727362.html      

 

 

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