Massenwirkung und innere Entwicklung.
Bruce Springsteen zum 75. Geburtstag
Ein Amerikaner gastiert im Staat der Mauern und Zäune
Springsteen kam 1981 erstmals zu einem rein touristischen Kurzbesuch nach Ost-Berlin, wo er sich nach eingehender Kontrolle (samt Konfiskation der mitgeführten Zeitungen und Schriftstücke) am Checkpoint Charlie vom real vegetierenden Sozialismus regelrecht abgestoßen fühlte: „Man konnte regelrecht die Knute spüren, den lähmenden Stillstand und die ganz reale Erfahrung von Unterdrückung“. Und die Mauer selbst? „Ihre grausame, hässliche Realität konnte man gar nicht gefährlich genug einschätzen“, sie war für Springsteen und den E-Street-Band-Kollegen Steven Van Zandt ein „Schlag ins Gesicht der Menschlichkeit“. In seinen Memoiren “Born to Run“ kam Springsteen darauf zurück (vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/boss-ost-3765760.html).
Als die Führung der DDR-Jugend FDJ den großen Popkonzerten auf der Reichstagswiese (mit ihrer gezielten Beschallung über die Mauer hinweg) etwas entgegensetzen wollte, traten ihre Rockmusikexperten außer an Big Country und Joe Cocker auch an Springsteen heran. Barclay James Harvest und Bob Dylan (100.000 Besucher kamen) machten im Jahre 1987 den Anfang im Treptower Park. Neuland für die FDJ! War Springsteen nicht passend als (vermeintlicher) Linker, der Empfindungen der „kleinen Leute“ und auch mal obdachlose Vietnam-Veteranen ins Zentrum seiner Lyrik rückte (“Born in the U.S.A.“)?
Am 19. Juli 1988 sang Springsteen vor nachweislich mindestens 160.000 Menschen in Berlin-Ost, auf der Radrennbahn Weißensee. Es könnten auch doppel so viele Besucher gewesen sein, da irgendwann die Menschenmassen auch ohne Eintrittskarte auf das nicht eingezäunte Gelände strömten, vorbei an konsternierten, ratlosen Ordnern. Es handelte sich um die teilnehmerstärkste Musikveranstaltung in der Geschichte der DDR (und auch in Springsteens Leben), obwohl Karten nur in Ost-Berlin verkauft wurden.
Das Ereignis stand, ohne Wissen Springsteens, unter dem Motto „Konzert für Nikaragua" (1) (irgendwie mussten die FDJ-Veranstalter es ihren Nomenklatura-Oberen ja schmackhaft machen; nach Mittelamerika floss vermutlich nichts). Das Springsteen-Team entfernte gerade noch rechtzeitig sämtliche Banner mit diesem Schriftzug. Mit einem kleinen Kreuz um den Hals rief er auf Deutsch: „Es ist schön, in Ost-Berlin zu sein. Ich möchte euch sagen: Ich bin hier nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock'n'Roll zu spielen für euch Ost-Berliner, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden. Ich danke euch“. Das Wort „Mauern“, zuerst vorgesehen, wurde in letzter Minute vorsichtshalber ersetzt. Denn die Reaktion der DDR wäre wohl die Absage künftiger Konzerte gewesen, oder ein herbeigeführter Stromausfall.
Spätestens als die Massen skandierten “Born in the U.S.A.“, seinen Riesenerfolg von 1984, stand schlagartig fest: Die junge Generation war wohl größtenteils der SED entglitten. Eiskunstläuferin Katarina Witt, für viele eine Symbolfigur für Anpassung und Privilegien, wurde als Ansagerin gnadenlos ausgebuht. Dazu schwenkten manche auch selbstgefertigte US-Flaggen. Revolutionär genug, und friedlich sowieso.
(vgl. https://www.welt.de/kultur/musik/article118180430/Wie-Springsteen-die-Mauer-zum-Wackeln-brachte.html)
Und wir erinnern uns, dass ein Jahr später vor allem junge Menschen über Ungarn und die Tschechoslowakei den Honecker-Staat verließen.
Glaube
In einem Interview mit der britischen BBC sagte Springsteen: „Ich wurde als Kind so intensiv mit der Bibel vertraut gemacht. Das hat mich geprägt. Bis heute finden sich in meinen Texten zahlreiche biblische Bezüge: da geht es viel um Verdammnis und Rettung, um Gnade und dem Hinausfallen aus der Gnade“. Dies geschieht jedoch selten direkt wie in “Adam Raised a Cain“ (1978) über die Beziehung zu seinem Vater:
In the Bible Cain slew Abel
And East of Eden mama he was cast
You're born into this life paying
For the sins of somebody else's past
oder: “Jesus Was an Only Son“ (2005):
Well Jesus was an only son / As he walked up Calvary Hill / His mother Mary walking beside him In the path where his blood spilled / Jesus was an only son / In the hills of Nazareth / As he lay reading the Psalms of David / At his mother's feet / A mother prays, "Sleep tight, my child, sleep well / For I'll be at your side / That no shadow, no darkness, no tolling bell, / Shall pierce your dreams this night." / In the garden at Gethsemane / He prayed for the life he'd never live, / He beseeched his Heavenly Father to remove / The cup of death from his lips / Now there's a loss that can never be replaced, / A destination that can never be reached, / A light you'll never find in another's face, / A sea whose distance cannot be breached / Well Jesus kissed his mother's hands Whispered, / "Mother, still your tears, / For remember the soul of the universe / Willed a world and it appeared“.
Mit “Ghost of Tom Joad“ (1995) verbindet er eine atmosphärisch dichte Beschreibung von Gegenwartselend mit der zentralen Figur aus „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck, dem Roman bzw. John-Ford-Film über den Aufbruch ins angeblich „gelobte Land“ Kalifornien während der 1930er (“...He pulls a prayer book out of his sleeping bag / Preacher lights up a butt and he takes a drag / Waitin' for when the last shall be first, and the first shall be last...“)
Ausführlich und differenziert geht „the Boss“ in seinen Memoiren, drittes Kapitel, auf die kindliche Prägung durch die Kirche ein: Eine übermäßige Strenge in der katholischen Schule wird reflektiert, aber ohne Verbitterung und Hass:
„Selbst wenn man damals in der Schule unversehrt geblieben wäre, ging einem der Katholizismus tief unter die Haut. Ich war Messdiener und stand in der heiligen Schwärze der Nacht um vier Uhr früh auf, um über winterliche Straßen zur Kirche zu hasten, in der Stille der Morgendämmerung in der Sakristei meinen Talar anzulegen und auf Gottes persönlicher terra firma am Altar der heiligen Rosa rituelle Handlungen auszuführen – Zutritt für Laien verboten. Während ich dort vor einem Publikum aus Verwandten, Nonnen und den Frühaufstehern unter den Sündern unserem griesgrämigen, 80 Jahre alten Monsignore assistierte, atmete ich den Weihrauchduft ein. Ich erwies mich allerdings als so unfähig, die verschiedenen Körperhaltungen einzunehmen und meine lateinischen Sprüche zu lernen, dass sich der Monsignore eines Tages dazu verleitet sah,
mich bei der Frühmesse um sechs an der Schulter meines Ministrantenrocks zu packen und mich zum fassungslosen Entsetzen aller mit dem Gesicht nach unten zum Altar zu zerren. Schwester Charles Marie, meine Klassenlehrerin in der Fünften, die Zeugin der Strafaktion geworden war, schenkte mir später am Nachmittag auf dem Schulhof ein kleines Andachtsmedaillon. Diese liebevolle Geste werde ich nie vergessen.
In den Jahren als St-Rose-Schüler hatte ich die körperlichen und emotionalen Belastungen durch den Katholizismus hinreichend zu spüren bekommen. Doch am letzten Schultag nach der achten Klasse kehrte ich alldem den Rücken, Schluss damit, nie wieder, sagte ich mir, ich war frei, frei, endlich frei... Und das glaubte ich wirklich … sogar ziemlich lange. Als ich aber älter wurde, fielen mir an der Art, wie ich dachte, reagierte und mich verhielt, bestimmte Eigenarten auf. Reumütig und verwirrt wurde mir am Ende klar: einmal katholisch, immer katholisch. Also hörte ich auf, mir etwas vorzumachen. Ich praktiziere meinen Glauben nicht allzu oft, aber ich weiß, dass ich irgendwo … tief in mir drin … immer noch zum Team gehöre.
Dies war die Welt, in der ich zu meinen ersten Songs fand. Im Katholizismus wohnten die Poesie, die Gefahr und die Dunkelheit, die meine Vorstellungen und mein Inneres widerspiegeln. Ich entdeckte ein Land von großartiger herber Schönheit mit fantastischen Geschichten, unvorstellbaren Strafen und unendlicher Belohnung, einen glorreichen und dramatischen Ort, für den ich entweder „geformt“ worden war oder in den ich von Haus aus „passte“. Der Katholizismus hat mich als Wachtraum mein ganzes Leben lang begleitet. Als junger Erwachsener versuchte ich, seine Bedeutung zu ergründen. Versuchte, seine Herausforderungen zu bewältigen, weil es tatsächlich Seelen gibt, die verloren gehen können, und gleichzeitig auch ein Reich der Liebe, das erobert werden will. Ich betrachtete im Spiegel dessen, was ich verinnerlicht hatte, das leidvolle Leben meiner Angehörigen, Freunde und Nachbarn. Ich verwandelte all das in etwas, was für mich greifbar und verständlich war, woran ich sogar glauben konnte. So komisch es klingt: Ich habe ein „persönliches“ Verhältnis zu Jesus. Er ist nach wie vor einer meiner Väter, wenngleich ich mittlerweile an seine göttliche Kraft ebenso wenig glaube wie etwa an die göttliche Kraft meines leiblichen Vaters. Ich glaube fest an seine Liebe, an seine Fähigkeit zu retten … aber nicht zu verdammen ... genug davon.
Wie ich sehe, haben wir nun mal von Apfel gegessen, und Adam, Eva, der rebellische Jesus in all seiner Herrlichkeit sowie Satan gehören samt und sonders zu Gottes Plan, Männer und Frauen aus uns zu machen und uns die kostbarsten Gaben zu schenken: Erde, Schmutz, Schweiß, Blut, Sex, Sünde, Güte, Freiheit, Gefangenschaft, Liebe, Angst, Leben und Tod … unser Menschsein und unsere ureigene Welt“
( Born to Run - Google Books , Kap. 3)
Springsteen teilt nicht jede Aussage der katholischen Kirche zu den Debattenthemen der Gegenwart. Aber er ist überzeugt: „Je älter man wird, desto wichtiger wird die Spiritualität“ (Porträt: Bruce Springsteen: Der Rocker und die Religion - religion.ORF.at
und: Bruce Springsteen: Born to run. Die Autobiographie. München 2016).
Literatur
https://de.wikipedia.org/wiki/Bruce-Springsteen-Konzert_1988_in_Ost-Berlin
(Vorschau auf deutsch)
TV-Beitrag:
Kalter Krieg der Konzerte. Wie der Boss den Osten rockte. (Arte, 9.11.2013) https://www.youtube.com/watch?v=nRJc-bcv4es
© Stefan Winckler