Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

  

Stefan Winckler


Entlarvung der ideologischen Antriebskräfte“. Rezension zu Frank-Lothar Kroll: Totalitäre Profile


Hatte Hitler von Anfang an die Ermordung der Juden in seinem Machtbereich beabsichtigt?  Der Chemnitzer Historiker Frank-Lothar Kroll untersuchte in seiner Habilitationsschrift „Utopie als Ideologie“ (1995, veröffentlicht: Paderborn 1998) die Geschichtsauffassung Hitlers und weiterer führender Nationalsozialisten, die darauf Hinweise geben könnte. Wie schlug sich sein Geschichtsbild in der politischen Praxis nieder? Kroll steht auf der Seite der „Intentionalisten“, die von Hitlers frühzeitig entwickeltem Willen zur Ausrottung der Juden unter seiner Herrschaft überzeugt sind.

Diesem Thema blieb Kroll auch in späteren Jahren verbunden, wie aus der vorliegenden Sammlung von 18 Aufsätzen und Vortragstexten der Jahre 1996 bis 2015 hervorgeht. Dieser umfangreiche Sammelband (392 Seiten plus 60 Seiten Endnoten, Quellen- und Literaturverzeichnis) widmet sich darüber hinaus auch den Einstellungen sehr unterschiedlicher Hiter-Gegner – vor allem auch der Frage, wie diese Personen ihre kritischen Standpunkte schriftlich verarbeiteten.

Zur Leitfrage nach dem Geschichtsbild: Hitler behauptete, es gäbe einen ewigen, alles beherrschenden und überall bestehenden Gegensatz (oder besser: Kampf) zwischen den „Ariern“ als „Kulturträger“ und den immer und überall als destruktiv angesehenen Juden, der keinen Kompromis zuließe. Einen ähnlichen, wenn auch nicht den gleichen Antagonismus sahen Richard Walter Darré („nordische Rasse“ versus „Nomadentum“) oder Heinrich Himmler, gleichwohl einer der maßgeblichen Organisatoren der Shoah, der den Gegensatz zwischen „Ariern“ und „Slawen“ als bestimmende Kraft der Geschichte zu sehen glaubte (vgl. S. 23f). So gab es durchaus unterschiedliche Geschichtsdeutungen von verschiedenen NS-Politikern, die allesamt auf mangelnden geschichtlichen Kenntnissen, absurden Theorien sowie den Versuchen beruhen, „große Linien“ der Geschichte zu finden, die die eigenen Meinungen (um nicht zu sagen: die eigene politische Perversion) stützen sollten. Falsche Geschichtsbilder von „Rassenkämpfen“ führten wesentlich dazu, anderen Völkern (in Osteuropa) gerade noch einen Sklavenstatus zuzubilligen, oder – singulär in der Geschichte – die Juden planmäßig auszurauben und auszurotten.

Kroll lehrt den Leser genau hinzuschauen, zu unterscheiden und erst dann zu urteilen. Aussagen von Politikern, Publizisten und Gelehrten sind nicht nach heutigen Maßstäben, sondern nach der politischen Kultur ihrer Zeit einzuordnen.

Manch eine Person wandelte sich vom NS-Fanatiker und -Verbrecher (Helldorff!) zum Hitler-Gegner, so dass diverse Aussagen der entsprechenden Protagonisten unter nationalistisch-totalitären Herrschaft nicht als pars pro toto genommen werden können, wenn es um deren Einschätzung als regimenah oder NS-kritisch geht. Die österreichische Schriftstellerin Gertrud Fussenegger beispielsweise feierte mehr als einmal Hitler in ihren Artikeln, verfasste aber 1937 die Erzählung „Mohrenlegende“, ein „flammendes Plädoyer gegen Rassismus“ (so Mitglieder der Jury des Weiheimer Literaturpreises), das ihr NS-offizielle Missbilligungen einbrachte. „Ein ambivalenter Fall“, so Kroll, der Fussenegger persönlich kennengelernt hatte. Zumal Fussenegger sich auch im fortgeschrittenen Alter im Gegensatz zu vielen anderen gegen jede Schlussstrich-Mentalität wandte und ihre älteren NS-konformen Texte bedauerte (S. 330-334). Wie subtil und vorsichtig Kritik in der NS-Zeit geübt werden musste, um nicht zur sofortigen Verhaftung zu führen, macht Kroll auch anhand der entschieden katholischen Schriftsteller Reinhold Schneider und Werner Bergengruen deutlich. Ähnliches gilt für den Bonner Kunsthistoriker Heinrich Lützeler. Dies ist um so notwendiger, da in der Gegenwart häufig die vorschnelle Verdammung das Wissen um die eng begrenzten Möglichkeiten der „inneren Emigration“ unter Hitlers Herrschaft ersetzt hat. Auch an anderer Stelle zeigt Kroll – der manchen wertvollen Beitrag zur interdisziplinären Kulturforschung geleistet hat – auf, dass vermeintlicher NS-Jargon ganz andere Wurzeln und eine andere Bedeutung hat, als es vielen heute erscheint.

Hervorzuheben ist der Aufsatz über die Europa-Vorstellungen im deutschen Widerstand. Da ist zwar bei den Konservativen Carl Friedrich Goerdeler und Ulrich von Hassel einiges von deutscher Hegemonie in Mitteleuropa zu lesen. Bedeutete dies eine Übereinstimmung mit dem NS, der ab 1941 viel von „Europa“ und „europäischer Kultur“ tönte? Nein, der Widerstand achtete stets das politische Eigenleben der Völker, dessen leiseste (politische) Regungen das Regime unterdrückte. Grundlage der NS-Europakonzeptionen war dagegen stets das Rassendenken.

Den wenigsten dürfte bekannt sein: Der Begriff „Volksgemeinschaft“, einst ein Zugpferd der NS-Propaganda, ist sehr viel älter als die NSDAP. Sein Sinngehalt wurde im 19. Jahrhundert diskutiert, er gewann nach dem Ersten Weltkrieg an Potenzial. Kroll: „Hier waren es jüngere, revisionistisch gesinnte und allesamt stark vom ,Fronterlebnis' geprägte SPD-Mitglieder, Anhänger vor allem des anti-marxistischen und nationalistisch gesinnten, von 1923 bis 1926 aktiven Hofgeismarer Kreises – unter ihnen Franz Osterroth und August Rathmann, Theodor Haubach, Carlo Mierendorff und Wilhelm Leuschner -, doch auch ausgesprochen theoretische Köpfe wie Gustav Radbruch und Gustav Dahrendorf, die sich den Begriff zu Eigen machten. Ab etwa 1930 gewann er durch die publizistischen Aktivitäten der Mitglieder des Kreises um die von Eduard Heimann, Paul Tillich und Franz Klatt herausgegebene Zeitschrift Neue Blätter für den Sozialismus rege Konjunktur und wurde zu einem der meistdiskutierten sozialdemokratischen Schlagworte“ (S. 128). Es ließe sich noch hinzufügen, dass einige der hier genannten politischen Publizisten in Gefängnis und KZ endeten oder sich nur durch Flucht vor denjenigen retten konnten, die das alte Wort von der „Volksgemeinschaft“ verdrehten und missbrauchten.

Mit dem umfassenden Quellen- und Literaturverzeichnis, dem Veröffentlichungsnachweis der einzelnen Aufsätze und dem Register ist das inhaltlich und stilistisch anspruchsvolle Buch auch von Verlagsseite ausgezeichnet bearbeitet worden.

Frank-Lothar Kroll: Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner. Berlin: be.bra wissenschaft, 2016

© Stefan Winckler

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