Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

© Stefan Winckler

Migration und Verantwortungsethik

 

Am 5. Juli 2016 kamen mehr als 23.000 Wallfahrer in Velehrad/Südmähren zu Ehren der beiden Slawenapostel zusammen – wie jedes Jahr an ihrem Gedenktag, der in Tschechien ein arbeitsfreier Feiertag ist. Der Vorsitzende der tschechischen Bischofskonferenz, der Prager Erzbischof Dominik Kardinal Duka, erklärte dort, „hier haben wir gelernt, was wahr ist und was nur falsche Propaganda oder verlockende Versprechungen sind. Hier haben wir gelernt, wem wir glauben und wen wir ablehnen sollten“. Damit hat sich Duka wohl nicht nur an die falschen Heilsversprechungen der Kommunisten erinnert, sondern auch an heutige politische Phrasen gedacht. Auch in Tschechien ist die Massenbewegung aus der arabischen Welt in Richtung Europa ein Thema.

Sollen Menschen muslimischen Glaubens in großer Zahl willkommen geheißen werden – und das auf Dauer? Oder ist Misstrauen ein guter Ratgeber? Das Volk ist distanziert und risikoscheu. Kardinal Duka betonte am 7. Mai 2016 gegenüber der Zeitung „Lidove Noviny“, dass Tschechien bereits erhebliche Leistungen erbracht habe: In den vergangen 20 Jahren seien fast eine halbe Million Menschen ins Land gekommen, vor allem aus Osteuropa. Es stimme nicht, dass sich die Republik abschotte. Die Fähigkeiten der Tschechen, Immigranten zu integrieren, seien aber begrenzt: „Wir haben keine Tradition [für die Aufnahme sehr vieler Flüchtlinge] und auch keine Leute, die mit den Flüchtlingen kommunizieren könnten“.

So stellt sich die Frage, wer aufgenommen wird. In erster Linie sollte das Land Christen aufnehmen, so der Erzbischof, „weil das die am meisten verfolgte Gruppe ist, die um ihr Leben fürchten muss“. Mit ihnen verbinde die Europäer eine „gemeinsame Tradition und Kultur“, was das Leben miteinander erleichtere.

Was muslimische Menschen betrifft, so kämen diese aus einer „ganz anderen Kultur und Zivilisation“, die der Integration entgegenstehe, weswegen eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe folgen könne“.

Damit ist der Primas von Böhmen weit skeptischer gegenüber einer erfolgreichen Integration großer Flüchtlingskontingente aus dem Nahen Osten eingestellt als Papst Franziskus, den er wesentlich von seiner lateinamerikanischen Erfahrung mit sozialen Notlagen geprägt sieht. Der Wunsch des Pontifex, geflohenen Menschen zu helfen, sei „bewundernswert, doch manchmal nicht realistisch. (…) Ich an seiner Stelle würde wahrscheinlich auch in Tränen ausbrechen, aber sagen: Ich möchte allen diesen Personen helfen, aber es gibt keine totale Lösung“. Duka sieht die Flüchtlingsfrage auch anders als die Deutsche Bischofskonferenz. Mehr noch: Angela Merkel untergrabe „eine ganze Reihe zentraler Grundsätze der Europäischen Union in Sachen Sicherheit, sozialem Frieden und Schengen-Abkommen“. Die beste Lösung für viele Migranten, so Duka, sei es, „die staatliche Ordnung in ihren Heimatländern wiederherzustellen, um ihnen zu Hause ein Leben in Würde zu garantieren“. Das versteht sich freilich von selbst, ist aber sehr schwer umzusetzen.

Was man auch immer von den verschiedenen Standpunkten halten mag, es dürfte kein Zweifel bestehen, dass zwischen den Interessen von tatsächlichen Flüchtlingen und den Einheimischen hierzulande ein Ausgleich stattzufinden hat. Im Sinne einer Verantwortungsethik ist abzuwägen, was den einheimischen Völkern in Europa gegenwärtig zugemutet werden kann, und welche Folgen die Aufnahme von jungen männlichen Immigranten haben wird, die zumeist nur über eine einfachere Ausbildung verfügen und auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne weitere große Anstrengungen konkurrenzfähig sind. Die pauschale Ablehnung jeglicher Aufnahme ist ebenso falsch wie eine schrankenlose, ungeprüfte Einwanderung. Sicherheit und Kosten sowie die Rücksicht auf die Bevölkerungsmeinung dürfen nicht außer acht gelassen werden. Verschiedene ethische und vor allem religiöse Gruppen sind aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit möglichst voneinander zu trennen. Umgekehrt brauchen diejenigen, die sich in die Debatten einschalten, genügend Kenntnisse und einen kühlen Kopf, anstelle des Wut- und Hassgeheuls, das auf facebook oft praktiziert wird.

   

Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Mißständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale. 

 

Karl Popper: Utopie und Gewalt. In: Georg Lührs [u.a.] (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie. Bonn 1975, S. 303-315, dort S. 311

  


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