Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

© Stefan Winckler

Henry Kissingers Lehr- und Lehrerjahre – eine detaillierte Biografie

 

Noch immer genießt der ehemalige Nationale Sicherheitsberater und Außenminister der Vereinigten Staaten einen außerordentlich hohen Bekanntheitsgrad – der um so eher zu beachten ist, da Kissingers letzter voller Arbeitstag im State Department vom 19.1.1977 datiert, also mehr als eine Generation entfernt ist. Er ist Legende, freilich hat er nicht nur Fürsprecher.

Kissinger selbst verfasste drei Memoirenbände im Gesamtumfang von etwa 3000 Buchseiten. Sie behandeln seine Tätigkeit in der Nixon- und in der Ford-Administration. Wer sein Leben vor dem Eintritt in die Regierung kennenlernen will, konnte den Biografien von Marvin und Bernard Kalb und Walter Isaacson wesentliches entnehmen, aber eine neue Monografie stellt diese Bücher in den Schatten: der renommierte schottische Historiker Niall Fergusson präsentierte im vergangen Jahr in den Vereinigten Staaten seine Biografie über Kissingers Prägungen und Leistungen vor seinem Eintritt in die Nixon-Administration: die Jahre 1923 bis 1968. Sie ist 2016 in deutscher Übersetzung erschienen. Mehr als zehn Jahre hat er daran gearbeitet, und weit mehr Quellen als seinen Autoren-Vorgängern standen ihm zur Verfügung: 8380 Dokumente mit insgesamt 37645 Seiten nahmen er und sein Forschungsassistent in ihre Datenbank auf, Unterlagen aus 111 Archiven wurden berücksichtigt. Insbesondere konnten erstmals jene private Dokumente Kissingers genutzt werden, die dieser 2011 der Yale University überließ (mehr als 100 Kisten). Das geradezu monumentale Werk entstand auf Kissingers Vorschlag; die Unabhängigkeit des Autors war aber vertraglich festgelegt, redaktionelle Eingriffe Henry Kissingers waren vertraglich ausgeschlossen worden (S. 10f).

Mit diesem vorzüglichen Quellenzugang verfügte der Autor Ferguson über beste Voraussetzungen, das Denken Kissingers zu beschreiben und zu erklären. Und um es vorwegzunehmen: Er hat seine Aufgabe hervorragend erfüllt.

Eindringlich und genau wird das Leben und der Untergang der jüdischen Gemeinde in Fürth geschildert, ausführlich seine weiteren Jahre in New York und gerade auch Krieg und Nachkriegszeit. Der Leser erfährt von dem enormen Fleiß und die Intelligenz des Studenten Kissinger, der schon vor dem 30. Lebensjahr anfängt, eine Zeitschrift herauszugeben und Internationale Seminare zu organisieren, an denen einige später bekannte Politiker teilnehmen. Oft und oberflächlich als kalter Realist gedeutet, sei Kissinger stark von Immanuel Kant geprägt und durchaus ein Idealist. Wer die Frage nach politischer Beratungstätigkeit bis hin zu diplomatischen Missionen stellt, wird in diesem Buch fündig: und zwar, wie Kissinger als Sachverständiger bereits in den Präsidentenjahren der Demokraten Kennedy und Johnson herangezogen worden war. Früher als andere, sah er die Vergeblichkeit des amerikanischen Kampfes im Vietnamkrieg.

 

Die Sprache ist nie unnötig kompliziert. Das 1120-Seiten-Buch ist eine nicht nur eine aufschlussreiche, sondern auch eine angenehme, an ausführlichen Zitaten reiche, geradezu spannende Lektüre.

 

Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist. Berlin: Propyläen, 2016  

© Stefan Winckler

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