Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Stefan Winckler

Auf der Suche nach dem dauerhaften Frieden: Wien, Versailles, Belfast

 

(1) Wiener Kongress

 

Die desaströse Niederlage Napoleons und seiner deutschen Verbündeten in Russland 1812 veränderte das europäische Kräfteverhältnis. Zar Alexander sah sich als gottgesandter Befreier Europas und richtete seine Ambitionen auf die Mitte des Kontinents. Preußen löste sich vom zwangsweise eingegangenen Bündnis mit Frankreich, Österreich folgte diesem Beispiel, die Rheinbundstaaten wechselten die Seiten. In jener Situation 1813 unterbreitete der österreichische Staatskanzler Metternich Bonaparte das Angebot, mit ihm eine neue dauerhafte Friedensordnung für (West- und Mittel-) Europa zu schaffen, wenn Frankreich seine Hegemonie aufgebe. Dies lehnte der selbsternannte Kaiser, sich überschätzend, ab. Anschließend verlor Frankreich den Krieg 1814. Die siegreichen „großen Vier“ Preußen, Österreich, England und Russland diktierten daraufhin den „ersten Frieden von Paris“, der Frankreich auf seine Grenzen vom 1.1.1792 zurückwarf. Das Datum war mit Bedacht gewählt, markierte es doch das Territorium Frankreichs vor Ausbruch der Revolutionskriege. Zugleich betrieben sie die Einsetzung des „legitimen Monarchen“ Ludwig XVIII., der das Oberhaupt des Hauses Bourbon war. Der territoriale Kernbestand Frankreichs blieb unangetastet, nicht einmal eine Kriegsentschädigung wurde erhoben. So hatte die Verlierermacht nach dem Systemwechsel wenig Lasten zu tragen und schien für die Zukunft (zumal nach der Episode der „100 Tage“ Napoleons) stabilisiert, einigermaßen immunisiert jedenfalls gegen Revolution und Störung der europäischen Ordnung. Ludwig war Vertragspartner und Freund.

Weiteres sollte ein Kongress in Wien bestimmen. Es war die Absicht der Siegermächte England, Russland, Österreich und Preußen, „alles im Griff zu haben“, also von der Tagesordnung bis zum Ergebnis bestimmend zu sein. Der geladene französische Chefdiplomat Talleyrand verstand es jedoch, die Siegermächte von der faktischen Gleichberechtigung seines Landes zu überzeugen. Er verhandelte nicht nur, er schloss ein heimliches Bündnis mit England und Österreich (gegen die als unverschämt raffgierig betrachteten Preußen und Russland). Am Ende war dank Metternich und seinem englischen Kollegen Castlereagh eine neue europäische Ordnung auf Basis des Gleichgewichts geschaffen. Preußen und Österreich waren stark genug, um Russland in Schach zu halten. Piemont-Sardinien, die neutrale aber wehrhafte Schweiz, Preußen und die Niederlande bildeten einen cordon sanitaire, der Frankreich von einem Ostfeldzug abhalten sollte. Nachdem in Frankreich die revolutionäre Gefahr gebannt war, wurde das Land 1818 aus seiner Bewährungsfrist entlassen und als fünfte Großmacht in die Heilige Allianz aufgenommen. Wie aber entwickelte sich die Deutsche Frage? Die souveränen deutschen Länder bildeten einen Staatenbund, zum Angriff unfähig, aber in einem Defensivbündnis zusammengeführt (ein Fortschritt gegenüber dem 18. Jahrhundert mit seinen Kriegen zwischen einzelnen Staaten des Heiligen Römischen Reiches). Diesen Verzicht auf einen germanisch-romantisch verbrämten Nationalstaat enttäuschte viele Teilnehmer der Befreiungskriege (oder solche, die gerne teilgenommen hätten), es kam zu Revolutionsgelüsten und mindestens einen terroristischen Mordanschlag. Außerdem schien ein österreichisch-preußischer Konflikt wenig wahrscheinlich, da sich Österreich der Vorherrschaft in Italien widmete, und Gebietsgewinne weit östlich machte, während Preußen mit den Rheinland eine westlich gelegene Provinz erhielt.

Alles in allem verhütete die Friedensordnung von Wien für 99 Jahre den europäischen Krieg zwischen den Großmächten. Kriege blieben auf zwei Konfliktparteien beschränkt sowie regional und zeitlich begrenzt.

 

(2) Der Unfriede von Versailles

 

Der Versailler Vertrag konnte einen Zweiten Weltkrieg nicht verhindern, und selbst zwischen den Kriegen war der Friede zeitweise in manchen Grenzregionen brüchig. Deutschland befand sich zwar 1918 auf der Verliererstraße und schloss einen Waffenstillstand, bevor auch nur ein Soldat der Entente auf deutschem Boden stand. Dennoch wurde Deutschland, das zusätzlich seine Staatsform den „westlichen“ Bedingungen angepasst hatte, nicht zu den Friedensverhandlungen eingeladen, sondern zur Annahme eines Diktats gezwungen, flankiert von einer Seeblockade der Briten, die in Deutschland viele Todesopfer forderte. Dies geschah unter dem unausgesprochenen Motto „Der Verlierer zahlt alles“, denn die parlamentarischen Demokratien Frankreich und Großbritannien wollten nicht die eigenen (Wahl)-Bürger, sondern den verhassten Feind mit den Kriegskosten konfrontieren. Dem Verlierer Deutschland wurde die Stabilisierung seines neuen republikanischen, demokratischen Staates erheblich erschwert. Wenn es in den folgenden Jahren etwas gab, was die Deutschen einte, dann war es die Ablehnung von „Versailles“. Dem Demagogen Hitler bot „Versailles“, das Deutschland in eine Paria-Rolle schob, erheblichen Rückenwind. Freilich war derartige Machtpolitik nicht die Spezialität Frankreichs und Englands alleine. Vielmehr waren das kaiserliche Deutsche Reich und Österreich-Ungarn im Anfang 1918 rücksichtslos in der Abtrennung der landwirtschaftlich und industriell wertvollen Gebiete des zerschlagenen Russland zugunsten eines nur kurz bestehenden, gleichwohl als Vasall dienenden ukrainischen Kunststaates im Frieden von Brest-Litowsk.

 

(3) Karfreitagsabkommen

 

Während im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Absolutismus und der konstitutionellen Monarchien, Abkommen lediglich zwischen Staaten geschlossen wurden, sind heute vertragliche Vereinbarungen zwischen sehr unterschiedlichen Konfliktparteien möglich: etwa zwischen einem Staat und einer außerparlamentarischen Opposition. So war das Abkommen, das der Runde Tisch 1989 in Polen erzielte, ein sehr gelungener Fahrplan auf dem friedlichen Weg der Systemtransformation. Auch das Karfreitagsabkommen verdient hervorgehoben zu werden: am 10. April 1998 unterschrieben Großbritannien, Irland und die Parteien Nordirlands einen Vertrag zur Beendigung des Nordirlandkonflikts. Die maßgeblichen paramilitärischen Truppen beabsichtigen die Abgabe ihrer Waffen (was Jahre später auch geschah), verurteilte Kämpfer sollten freigelassen werden, GB verringert seine Truppenpräsenz in Nordirland, die Republik Irland verzichtet auf ihre Wiedervereinigungsforderung, eine künftige Wiedervereinigung durch Volksabstimmung bleibt möglich, der Status Nordirlands (bislang direkt von London aus verwaltet) wird aufgehoben, Protestanten und Katholiken sind gleichberechtigt nicht zuletzt in Bezug auf eine gemischt-konfessionelle Polizei. So machten  alle beteiligten Konfliktparteien gewaltige Abstriche an ihren bisherigen „heiligen Kühen“, bis sich die gegenseitigen Bedrohungen praktisch aufhoben. In der Republik Irland gaben fast alle Wahlberechtigten dem Abkommen in einem Referendum ihre Zustimmung, in Nordirland waren es immerhin 71 Prozent. Nach einer Regierungsbeteiligung der gemäßigten Kräfte brachten die Wahlen 2007 in Nordirland den beiden radikalen Parteien die Mehrheit: Democratic Unionist Party und Sinn Fein. War das das Ende des Friedens? Zur Überraschung aller arbeiteten die bisherigen Todfeinde Ian Paisley (pro-britisch, Protestant) als Regierungschef und Martin McGuinness (Ex-IRA) als sein Stellvertreter sehr wirkungsvoll zusammen, nachdem sie als Regierungspartner gemeinsame Ziele entdeckten (Wirtschaftswachstum!) und zusammen Verantwortung trugen.1 Fazit: Das Karfreitagsabkommen führte zu einem starken Rückgang der Gewalt, einem im Sinne des konfessionellen Proporzes gerechteren Nordirland und mehr Wohlstand.

 

(4) Ausblick

 

Schlussfolgernd ließe sich sagen, dass ein dauerhafter Frieden nicht auf Nötigung und Demütigung einer (Verlierer-)Seite aufgebaut werden kann, und auch nicht auf hochmoralischen, aber unumsetzbaren Prinzipien (beispielsweise konnte der Völkerbund den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern). Es besteht in Anlehnung an Henry Kissingers Werk „Weltordnung“ (2015) vielmehr keine Alternative zu einer pragmatischen Anpassung an die Realität. Der Weg der kleinen Schritte ist dem „alles-oder-nichts“ vorzuziehen. Solange eine militärische Auseinandersetzung noch nicht zu einem totalen Krieg um die reine Existenz eskaliert ist, ist vernünftigerweise eine vertragliche Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien anzustreben, die sämtliche Teilnehmer in die mündlichen Verhandlungen einbezieht und das Gesicht wahren lässt (schon dem Westfälischen Frieden 1648 waren jahrelange Gespräche zwischen allen beteiligten Kontrahenten vorausgegangen; die amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg endete nach fast fünfjährigen Verhandlungen 1973). Es soll keine Gruppe oder kein Staat annehmen, sie bzw. er sei von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen oder nur zum Schein beteiligt (z.B. fürchtete Südvietnams Präsident Thieu, Nixon und Kissinger wollten unter Vernachlässigung der antikommunistischen Vietnamesen eine schnelle Lösung vor dem amerikanischen Wahltermin, um sich aus Indochina zurückziehen zu können). Hilfreich ist auch ein möglichst neutraler Vermittler, wie etwa der US-Amerikaner George Mitchell in Bezug auf Nordirland, Henry Kissinger (nicht zufällig ein Metternich-Kenner) in Nahen Osten und Philipp Habib auf verschiedenen Kontinenten, um Truppenentflechtung und Waffenstillstand zu erreichen. Der Weltfriede, von dem 1919 und 1945 die Rede war, bleibt freilich Utopie, weil bestimmte Formen des Konflikts, etwa der „Weltbürgerkrieg der Ideologien“2, durch andere Konflikte wie dem jetzigen „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington) abgelöst werden.

 

1Lesenswert der Nachruf von McGuinness auf Paisley. http://www.irishtimes.com/news/politics/martin-mcguinness-very-proud-that-he-and-ian-paisley-were-part-of-something-hugely-important-1.1927532


2So der Buchtitel von Thomas Nipperdey/Anselm Döring-Manteuffel/hans Ulrich Thamer. Berlin 19


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