Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Edgar Reitz, Film, Regie, Regisseur, Hunsrück, Heimat, München, Salome Kammer, Memoiren, Erinnerungen

Von Stefan Winckler 



Wie kaum ein anderer deutscher Regisseur hat sich Edgar Reitz im In- und Ausland einen Namen als herausragender Filmkünstler gemacht, oft begleitet vom mittlerweile verstorbenen Chefkameramann Gernot Roll und dem Komponisten Nikos Mamangakis.  Der gebürtige Hunsrücker Reitz, der seit 70 Jahren in München lebt (und diese Stadt zum Schauplatz des 13-teiligen Fernsehfilms „Die zweite Heimat“ gemacht hat), legte kurz vor dem 90. Geburtstag im Herbst seine Erinnerungen vor. Die 660-Seiten-Monografie trägt den Titel „Filmzeit, Lebenszeit“.
Was ist das Charakteristische an Reitz und seinen Werken? Reitz ist, wie z.B. auch der ein wenig ältere Stanley Kubrick, (Co-)Produzent, (Co-)Drehbuchautor und Regisseur in einer Person: ein Autorenfilmer.  Was ihm das  filmische „Handwerk“ bedeutet, lässt der Uhrmachersohn mehrfach durchblicken: Von der Kamera über den Schneidetisch bis zum Filmprojektor will er die Technik kompetent bis ins kleinste Detail beherrschen. Er, der eigentlich Germanistik und Theaterwissenschaften studiert hatte, lernte den Umgang mit den Kameras des renommierten Herstellers Arri kennen und verfeinerte seine Fähigkeiten der Bildgestaltung als Assistent des experimentierfreudigen Willy Zielke. Es schlossen sich erfolg- und ertragreiche Jahre des Industriefilms an, v.a. für die Bayer AG um 1960, bis er sich an eigene Spielfilmprojekte heranwagte.
Nicht nur Umsetzung und Form, sondern auch der Inhalt der Reitz-Filme gilt Kritikern als exzeptionell. Es geht Reitz seit rund 50 Jahren um eine Annäherung an die geschichtliche, mehr noch die zeitgeschichtliche Realität der „Normalbürger“ in Deutschland.  Außergewöhnlich war sein Film „Die Reise nach Wien“. Im Jahr 1973, als Sexfilme und infantile Komödien die Kinosäle füllten, verfilmte er ein ganz anderes, wirklich eigenes Thema, lange vor der späteren Häufung von „Nazi-Stoffen“ unterschiedlicher Qualität. Zwei junge Frauen (Elke Sommer und Hannelore Elsner) fahren im Jahre 1943 von Simmern nach Wien, um sich zu vergnügen und einzukaufen. Ausgangspunkt war eine tatsächliche Reise seiner Mutter während des Krieges.
„Der Schneider von Ulm“ (1978) behandelt das Schicksal eines Tüftlers, genauer: eines Flugapparat-Erfinders in einer bestimmten Epoche: dem frühen 19. Jahrhundert. Reitz plaudert im Buch aus dem Nähkästchen, wie die Dreharbeiten in der Tschechoslowakei von Korruption und teilweise mangelnder Kooperation im kommunistischen Staat überschattet wurden. Der Historien- und Kostümfilm wurde wegen der viel authentischer wirkenden Bausubstanz u.a. in Telč  und Česky Krumlov gedreht.
Das alles überragende Hauptwerk von Reitz ist jedoch die „Heimat“-Trilogie: Sie hatte „sowohl dem Umfang nach (dreißig Filme mit einer Gesamtspieldauer von fast 54 Stunden) wie auch als erzählerisches Filmwerk ohne literarische Vorlage keine Vorläufer in der Film- und Fernsehgeschichte“ (S. 606). Reitz erzählt in der Autobiografie sehr anschaulich, wie die Drehbücher der drei „Heimat“-Reihen entstanden, und welche Schwierigkeiten ihm die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit ihrer Einschaltquoten-Orientierung bereiteten (v.a. bezüglich „Heimat 3“)
Es mag überraschen, wie viel eigene Erfahrung Reitz in die einzelnen Fernsehfilme einbrachte. Er ist damit zugleich ein Chronist deutscher Alltags-Geschichte: Wie erlebten Dorfbewohner die Zeit zwischen den Weltkriegen, wie war das Leben der Kinder (bestimmt nicht nur im Geburtsort Morbach) im Krieg und der Besatzungszeit, was lernte er von Lehrer-Persönlichkeiten über den reinen Schulstoff hinaus, wie präsentierte sich München in den 1950er Jahren, inwieweit war die Begegnung mit den „68ern“ problematisch? Natürlich wurden Archive genutzt und Zeitzeugengespräche geführt. Außergewöhnlicher erscheint es, dass in der ersten „Heimat“ und mindestens ebenso in „Die andere Heimat“ vor Ort gedreht wurde. Etliche Laiendarsteller und wenig bekannte Bühnenschauspieler kamen zum Zuge. Der italienische Neorealismus lässt aus der Ferne grüßen. So schließt sich ein Kreis: Von den Werken Vittorio de Sicas und Roberto Rossellinis war Reitz in seinen jungen Erwachsenenjahren fasziniert.
Nun sind Memoiren im allgemeinen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen.  Oft dienen sie schlichtweg der nachträglichen Selbstrechtfertigung. Die eigene Lebensleistung wird übertrieben, es wird möglicherweise gelogen.
Ganz anders Edgar Reitz mit „Filmzeit, Lebenszeit“: Der Autor ist kein Politiker, er braucht sich nicht in ein günstiges Licht zu rücken. So ist er ehrlich genug, um nicht nur über Ehrungen und Auszeichnungen, sondern auch über persönliche Niederlagen zu schreiben (aus denen sich so manche originelle Filmszene machen ließe). Kollegen wie Alexander Kluge und Alf Brustellin kommen vor, auch sein Bruder Guido (eine grandiose Begabung auf einem ganz anderen Gebiet), und seine Ehefrau: die Stimmsolistin, Cellistin und Schauspielerin Salome Kammer.
Mehr als bemerkenswert ist die stilistische Qualität dieser Autobiografie, beispielsweise, wenn sich Reitz an seine beginnende Faszination für den Film in jungen Jahren erinnert:
„In meinem Innern hatte sich ein weißes Rechteck aufgerichtet, auf das jedes Licht der Erkenntnis fiel, das mich traf. Dieses weiße Rechteck, Symbol der Kinoleinwand,war zu einer Pforte in ein neues Leben geworden. Poesie entstand für mich in einer neuen Sprache, der des Kinos als ein Ort für alle Geheimnisse und Schönheiten“ (S. 168f).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Reitz als virtuoser Erzähler präsentiert, dessen Entwicklung vom Handwerkersohn aus der ländlichen Moselregion bis zum international geehrten Künstler in München einem breiten anspruchsvollen Publikum nahegelegt werden kann, ähnlich wie sein jüngster Film „Die andere Heimat“ (2013) und die Dokumentation „Making of Heimat“. Welch ein Leben, und welch eine Begabung, dies im hohen Alter von fast 90 Jahren aufschreiben!
Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Berlin: Rowohlt Berlin, 2022; ISBN-13: ‎978-3737101592; € 30,00.

© Stefan Winckler

 

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