Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

© Stefan Winckler

Der Minister als Lehrling


Nach Art. 65 GG bestimmt der Bundeskanzler die „Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung“.

Was macht einen Minister aus, welche Eigenschaften sollte er haben? Führungsqualitäten und Fachkompetenz sind es, die dem Leser hierzu einfallen mögen.

Führungsqualitäten kann jemand innerhalb seiner Partei, etwa als Generalsekretär, Geschäftsführer, als Minister/Senator auf Landesebene, als Oberbürgermeister, als Fraktionsvorsitzender oder im Vorsitz eines Verbandes (etwa einer Gewerkschaft) gezeigt haben. Aber reichen reine Führungsqualitäten/“Managerfähigkeiten“ aus, um gegenüber den fachlich versierten, erfahrenen Beamten im Ministerium überzeugend zu wirken?

Fachkompetent ist jemand, der „spezialisierte Kenntnisse anwendet“, „die „auf einer theoretischen Grundlage beruhen, in einer systematischen Ausbildung erworben wurden, deren Beherrschung in einem speziellen Test geprüft wird und den Berufseintritt regelt“ (vgl. Hans Mathias Kepplinger: Massenkommunikation. Rechtsgrundlagen Medienstrukturen Kommunikationspolitik. Stuttgart 1982, S. 146). Vereinfacht ausgedrückt, wer an einer Universität hierzulande beispielsweise Pharmazie ordnungsgemäß studiert und mit einem erfolgreichen Staatsexamen abgeschlossen hat, verfügt über eine Fachkompetenz auf eben diesem Gebiet, der Pharmazie.

Oft kommt es vor, dass eine Person zum Minister ernannt wird, ohne mit diesem Ressort und seinen Fachinhalten bisher in Berührung gekommen zu sein. Nehmen wir beispielhaft die Bundesregierungen von 1982 bis 1998, an deren Spitze Helmut Kohl stand. Der Historiker und Politikwissenschaftler Dr. phil. Kohl selbst war gerade auch aufgrund seiner praktischen Erfahrung qualifiziert, ungeachtet des Spotts vornehmlich der SPD und der in Hamburg erstellten Presseerzeugnisse „Spiegel“, „Stern“ und „Zeit“. Er war Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Landtag von Rheinland-Pfalz und – noch wichtiger – Ministerpräsident dieses Landes (1969-1976), anschließend stand er an der Spitze der einzigen oppositionellen Bundestagsfraktion.

1986 entschied sich Bundeskanzler Helmut Kohl für die Schaffung eines Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Vorausgegangen war die Atomkatastrophe von Tschernobyl, während die prestigeträchtige Landtagswahl in Niedersachsen bevorstand. Kohl ernannte nicht den "eingearbeiteten" Umwelt- und Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, Klaus Töpfer, den ihm Heiner Geißler vorgeschlagen hatte, sondern den bisherigen Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann, der als Landesvorsitzender der CDU Hessen bereits als christdemokratischer Spitzenkandidat für die 1987 vorgesehene Landtagswahl designiert war. Mit anderen Worten: Wallmann war juristisch kompetent und fachkundig auf dem Gebiet der Kommunalpolitik, mit Kenntnissen der Landespolitik in Hessen. Über seine Fachkompetenz in Bezug auf Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit machte er sich selbst nicht die geringsten Illusionen: „Ich bin einfach überfordert, wenn Sie jetzt von mir erwarten, daß ich detailliert und zur Sache oder auch in Zügen Richtungen angeben werde“ (vgl.: „Spiegel“, Nr. 24/1986, S. 19). Sinngemäß gab er in jenen Tagen zu, wenn er schon keine klugen Antworten wüsste, so werde er sich wenigstens bemühen, intelligente Fragen zu stellen. Seine engste Umgebung besetzte Wallmann mit seinen Vertrauten Christean Wagner und Alexander Gauland, die beide nicht mit beruflichen Erfahrung in Bezug auf Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (und eben nicht mit einem Examen in Biologie, Chemie oder Physik) ausgestattet waren.

Als besonders grotesk erscheint die Berufung der promovierten Pharmazeutin Irmgard Adam-Schwätzer zur Bundesministerin für Wohnungsbau und Raumordnung 1990/91, während gleichzeitig die wohnungsbaupolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion Hannelore Rönsch (48 Jahre, zuvor 21 Jahre lang Mieterberaterin einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft) Ministerin für Familie und Senioren wurde. Jürgen Möllemann, der Deutsch, Geschichte und Sport studiert und mit dem zweiten Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen abgeschlossen hatte, übernahm das Amt des Bundeswirtschaftsministers, das seit 1972 26 Jahre lang de facto ein „Erbhof“ der FDP gewesen war: die Minister Friderichs, Lambsdorff, Bangemann, Haussmann, Möllemann, Rexroth waren Liberale. Zur gleichen Zeit berief Kohl die promovierte Physikerin Angela Merkel, geschieden und kinderlos, zur Bundesministerin für Frauen und Jugend. Merkel hatte sich ebensowenig auf diesem Gebiet zuvor profiliert. Es ging dem Bundeskanzler offensichtlich darum, eine junge Frau aus dem Nordosten des Staatsgebiets in die Regierung zu holen, um eine bestimmte Gruppe von Wählern und vor allem Wählerinnen das Gefühl zu geben, sie würden vertreten werden. Als vier Jahre später die Thüringerin Claudia Nolte das Amt übernahm (Merkel konnte ihre vorhandene naturwissenschaftliche Fachkompetenz fortan als Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit anwenden), rieben sich viele Bürger verwundert die Augen. Doch verfügte Nolte, Diplom-Ingenieurin und wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Technischen Hochschule,  als Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Frauen- und Jugendpolitik über Kenntnisse und sicher auch über die relevanten personellen Beziehungen zum Ministerium und zu Verbänden.

Der erste Bundesminister für Wirtschaft in der Regierung Merkel/Müntefering hieß Michael Glos. Zunächst war er als Finanzpolitiker ausgewiesen, anschließend wirkte er 1990-92 als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für den Bereich Wirtschaft/Verkehr/Mittelstand und Landwirtschaft (vgl. http://www.glos.de/de/index.html). 2005 war er jedoch, wie er selbst sagte, „von der Berufung zum Minister total überrascht und musste (sich) hart einarbeiten“ (tatsächlich war zunächst Edmund Stoiber für dieses Ressort vorgesehen, während sich Glos Hoffnungen auf das Amt des Verteidigungsministers machte). Der erfahrene CSU-Abgeordnete (seit 1976) äußerte nicht ohne Überspitzung und Selbstironie im gleichen Gespräch: „Ich wusste damals nicht mal, wo dieses Wirtschaftsministerium genau stand. Ich habe sogar in der Nähe gewohnt, aber es hat mich nie interessiert. Ich hatte kaum eine Ahnung, was die Aufgaben dieses Ministeriums sind, um was es sich alles zu kümmern hat“ („Spiegel“, 8/2011, S. 39ff). Es muss fairerweise an dieser Stelle hinzugefügt werden, dass Zuständigkeiten (sein Vorgänger Wolfgang Clement war zugleich Bundesminister für Arbeit, der designierte Edmund Stoiber bestand auf den Zusatz „und Technologie“) während der Koalitionsverhandlungen noch nicht abschließend geregelt waren. Glos wollte nicht in das Ministerium einziehen, sondern favorisierte Erwin Huber. Dass er unvorbereitet war, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Nicht einmal Führung hatte er bisher auf Behördenebene ausgeübt, lediglich dem Bezirksparteiverband und der CSU-Landesgruppe stand er vor.

Vergleichbares widerfuhr 1969 Walter Scheel. Er, der einst sehr gut auf das Amt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1961-62) vorbereitet war, konnte sich 1969 nicht sehr sicher sein, das Auswärtige Amt zu übernehmen: denn die Fortsetzung der Großen Koalition Kiesinger/Brandt war durchaus eine Option. Als jedoch eine Bundesregierung aus Sozialdemokraten und Liberalen in den Bereich des Möglichen rückte, zögerten Willy Brandt und Walter Scheel nicht, Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Arnulf Baring urteilt, Scheel habe in den ersten Monaten den administrativen „Riesenapparat nicht im Griff“ gehabt. Sachlich sei er „geschwommen“, bei seinem Auftritt vor dem Bundestagsausschuss für auswärtige Angelegenheiten habe er sich in Bezug auf die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen regelrecht blamiert (vgl. Arnulf Baring: Machtwechsel. München 1982, S. 269).

Als Egon Bahr, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1974-76, gegenüber „seinem“ Bundeskanzler Helmut Schmidt die Meinung vertrat, für die Leitung des Finanz-, Justiz- und Landwirtschaftsministeriums sei eine „entsprechende“, also fachbezogene Ausbildung notwendig, antwortete Schmidt, „mit etwas überdurchschnittlicher Intelligenz kann man das“. Spezialkenntnisse über „internationale Finanz- und Währungszusammenhänge“ eignete er sich nach Amtsübernahme an (vgl. Egon Bahr: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 464). Schmidt hatte in der Nachkriegszeit Nationalökonomie mit Abschluss Diplom-Volkswirt studiert.

Es wurden auffallend oft Personen berufen, die gerade eine Wahl verloren haben und auf eine Anschlussversorgung drängen bzw. aus parteitaktischen Gründen wichtig genug sind, um ein Ministeramt zu übernehmen. Bsp.: Der Jurist Martin Bangemann, zuvor MdEP, wurde nach der Niederlage der FDP bei den Wahlen zum Europäischen Parlament auf Betreiben Hans Dietrich Genschers 1984 Bundesvorsitzender dieser Partei und Bundesminister für Wirtschaft, nachdem der bisherige Amtsinhaber Otto Graf Lambsdorff nicht mehr zu halten war. In der Bundesregierung Schröder I übernahm Reinhard Klimmt, zuvor Ministerpräsident des Saarlandes und Verlierer der Landtagswahl 1999, das Verkehrsressort, der abgewählte hessische Ministerpräsident Hans Eichel das Ressort Finanzen. Bundespolitisch waren beide bisher kaum in Erscheinung getreten.

Parteitaktik liegt auch vor, wenn ein Landespolitiker nach Berlin als Minister „aufrückt“, damit der Landesverband am Kabinettstisch im Ministerrang vertreten ist. So z.B. Franz Josef Jung, promovierter Jurist und langjähriger Landespolitiker in Hessen. Er kam als Vertrauter des hessischen CDU-Landesvorsitzenden in das Kabinett Merkel, allerdings nicht als Bundesinnen- oder Justizminister, sondern als Verteidigungsminister. Dabei  konnte er kaum auf eigene Fachkompetenz zurückgreifen, vielmehr war er in Bezug auf Truppeneinsätze außerhalb der deutschen Grenzen auf Expertenrat und Einarbeitung angewiesen. Schwer nachvollziehen war bereits die Berufung des sehr renommierten Professors für Staats- und Verwaltungsrecht, Rupert Scholz, zum Bundesverteidigungsminister 1988. Scholz war zuvor Senator für Justiz und für Bundesangelegenheiten in Berlin, und dort mit militärischen Fragen nicht beschäftigt.

Das Thema ist alles andere als abwegig. Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer ging so weit, Fachwissen für nebensächlich zu erklären und stattdessen „politische Führungsfähigkeit“ hervorzuheben: „Ein Minister oder eine Ministerin muss Menschen führen und sein Ministerium organisieren können – unabhängig vom Fachwissen. Minister brauchen gegenüber ihren Kollegen im Kabinett Durchsetzungsfähigkeit. Und wenn das nicht klappt, die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen (…) Ein Minister muss die richtigen Personen auswählen, die über das erforderliche Fachwissen verfügen“. Er müsse delegieren und motivieren können („Welt“, 7.12.2013). Ich denke hingegen, Fachkompetenz ist in Kombination der von Niedermayer aufgeführten Eigenschaften wichtig, weil der Minister mehr sein muss als ein Leiter. Er muss nach „innen“ gegenüber seinen Beamten als derjenige erscheinen, der sich auskennt, der eine Richtung weist (wozu sicher Fachkenntnis vonnöten ist) und der selbständig zu entscheiden weiß. Es ist von Schaden, wenn nicht der Minister sein Haus, sondern sein Haus den Minister regiert. Er muss nach „außen“ Fragen beantworten, erklären und die Arbeit seines Hauses darstellen können – gegenüber dem Parlament, den Bürgern direkt und den Medien. Je kürzer die Einarbeitungszeit, je größer die Fachkenntnisse, um so besser. Schließlich ist der Minister vom ersten Arbeitstag gefordert, etwa im Ministerrat der EU und am Kabinettstisch in Berlin, seine Auffassungen überzeugend zu präsentieren und die Umsetzung in die Wege zu leiten.

In den Vereinigten Staaten ist die Ministerberufung komplizierter. Wer vom Präsidenten als Minister, Bundesrichter und Bundesbehördenleiter vorgesehen ist, hat eine Anhörung durch den entsprechenden Ausschuss des Senats zu überstehen und bedarf der anschließenden Bestätigung durch den Senat (Plenum). Der Auftritt des als Minister vorgesehenen Politikers wird im Fernsehen übertragen, er ist also eine öffentliche Prüfung der Fachkompetenz. Erfahrungsgemäß werden aber kaum Ablehnungen ausgesprochen. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Obamas Kandidat für das Amt des Finanzministers, Jack Lew, konnte sich der Zustimmung des Finanzausschusses – 19 : 5 Stimmen – erfreuen. Der Senat (Plenum) bestätigte ihn anschließend mit einer ebenfalls deutlichen Mehrheit von 71 : 26 Stimmen (vgl. http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/1799204/us-senat-bestaetigt-jack-lew-als-finanzminister.html). Demnach hatten sich auch 20 Republikaner für den Demokraten entschieden. Sein Vorgänger Timothy Geithner kam seinerzeit, 2009, nur auf eine Mehrheit vom 60:34 Senatsstimmen. Er war umstritten, da er bestimmte Einkünfte erst nach mehrjähriger Verspätung versteuert hatte (vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/obamas-finanzminister-senat-gibt-gruenes-licht-fuer-geithner-a-603662.html). Im Sinne einer Prüfung der Fähigkeiten und eines transparenten Verfahrens wäre ein ähnlicher Vorgang auch in Deutschland zu begrüßen. Außerdem ist hervorzuheben, dass der „reine (Partei-)Politiker“ in den Vereinigten Staaten selten zum Minister aufsteigt. Oft hat ein Minister zuvor eine Karriere in einem führenden Wirtschaftsunternehmen wie beispielsweise einer Bank oder einer sehr namhaften Anwaltskanzlei durchlaufen, und nimmt sich mit dem Ministeramt in eine „patriotische Pflicht“ bei sehr viel niedrigeren Bezügen. George C. Marshall, Alexander Haig und Colin L. Powell waren Generale, bevor sie Secretaries of State (Minister des Auswärtigen) wurden. Immer wieder finden wir auch Wissenschaftler, die in die Administration berufen wurden, wie Henry A. Kissinger als Historiker und Politologe mit Schwerpunkt der Internationalen Beziehungen, oder in jüngerer Vergangenheit Condoleezza Rice, die ebenfalls zunächst dem Nationalen Sicherheitsrat vorstand.

Auch die Berufung eines Parteilosen, eines „Experten“ muss kein Nachteil sein. Dies ist in der Bundesrepublik äußerst selten geschehen (wir denken an Hans Leussink als Minister für Bildung und Wissenschaft im Kabinett Brandt/Scheel. Der Prof. für Architektur und Bauingenieurwesen war zuvor Rektor der TH Karlsruhe und Vorsitzender des Wissenschaftsrates, also in seinem Ressort kenntnisreich).

Fazit: Es ist wohl am besten, ein Politiker verfügt über Grundlagenkenntnisse für ein bestimmtes Ressort, die er in einem ordnungsgemäßen Studium erworben und die er in einem erfolgreichen Examen nachgewiesen hat. Wenn ein Politiker Führungs- und Verwaltungsfähigkeiten etwa in einer Behörde nachweisen kann, ist es um so besser. Alle Einzelheiten seines Ressorts kann er bei Amtsantritt nicht kennen. Er muss aber wissen, wie er die Loyalität des Verwaltungsapparats gewinnt, Vertrauenskrisen vermeidet sowie fachlich intern und extern überzeugt. Eine parlamentarische Mitwirkung an der Ministerberufung (und ebenso an der Berufung von Bundesbehördenleitern) ist m.E. hilfreich. Zwar benötigt im Freistaat Bayern nach Art 45 der bayerischen Verfassung der Ministerpräsident die Zustimmung des Landtags, um Minister zu ernennen.  Noch deutlich besser ist m.E. eine Bestätigung durch den Bundestag gemäß dem amerikanischen Vorbild nach live im Fernsehen übertragener Anhörung durch den entsprechenden Bundestagsausschuss, um Ministerämter nicht nur mit verwaltungskompetenten, sondern auch mit fachlich versierten Personen zu besetzen.

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