Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Stefan Winckler

Gustav Stresemann zum 90. Todestag


„[Stresemanns Tod] ist ein unersetzlicher Verlust, dessen Folgen nicht absehbar sind. So empfindet man ihn auch hier [in Paris]. Alles spricht davon, die Friseure, die Kellner im Restaurant, die Chauffeure, die Zeitungsfrauen (…)

Alle Pariser Morgenzeitungen bringen die Nachricht vom Tode Stresemanns in größter Aufmachung. Es ist fast so, als ob der größte französische Staatsmann gestorben wäre.

Die Trauer ist allgemein und echt (…). 1

Die Weimarer Republik, deren Anfänge sich zum hundertsten Male jähren, ist oft als „Demokratie ohne Demokraten“ bezeichnet worden. Tatsächlich verfügte das Deutsche Reich zwischen 1919 und 1933 neben mittelmäßigem oder engstirnigen Personal über durchaus verschiedene politische Persönlichkeiten, die aus Überzeugung oder aus Fügung im Sinne der demokratischen Verfassung2 wirkten, z.B. Friedrich Ebert, Walther Rathenau sowie die jüngeren Friedrich Dessauer und Ernst Lemmer.

An einen Politiker – oder besser: Staatsmann – wollen wir anlässlich seines 90. Todestages erinnern: Gustav Stresemann.

Geboren 1878 in Berlin, studierte er Nationalökonomie und wirkte, den „Ideen von 1848“ verbunden, in einer reformierten, gemäßigten Burschenschaft. Er arbeitete anfangs als Syndikus von Wirtschaftsverbänden. 1903 trat er der Nationalliberalen Partei bei, aus der sich 1918 die Deutschen Volkspartei bildete. Schon mit 29 Jahren erlangte er ein Reichstagsmandat.

Im Ersten Weltkrieg war Stresemann Fürsprecher einer territorialen Erweiterung Deutschlands, im Einklang mit erheblichen Teilen der politischen Klasse und des Großkapitals. In der Innenpolitik blieb er liberal. Er stellte sich nach 1918/19 auf den Boden der Tatsachen – um sie schrittweise im Rahmen der Rechtsordnung zum besseren ändern zu können. Als Reichskanzler 1923 beendete er den unergiebigen passiven Widerstand an der Ruhr, setzte gegen die sozialdemokratisch-kommunistischen Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen die Reichsexekution in Gange. Das Aufbegehren der separartistischen bayerischen Regierung brach in sich zusammen. Die Einführung der Rentenmark beendete die Hyperinflation. Dennoch musste er nach wenigen Monaten seinen Hut nehmen, als er nach einem Misstrauensvotum der SPD im Reichstag keine Mehrheit erringen konnte.

Stresemann blieb Reichsminister des Auswärtigen. Außer ihm gab es keinen Reichsminister, abgesehen von Wehrminister Otto Geßler, der sich über sechs Jahre in seinem Amt halten konnte. Seine Bemühungen galten der Gleichberechtigung und Souveränität Deutschlands durch die friedliche Revision des Versailler Vertrages: „Es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen. Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt und damit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben vermag, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind. So verbinden sich Nation und Menschheit auf geistigem Gebiete (…). Die politische Auswirkung dieser Gedanken liegt in einer inneren Verpflichtung der Staaten zu gemeinsamem, friedlichem Zusammenwirken“.3

Stresemann erweiterte damit Deutschlands Handlungsfähigkeit nach außen wie nach innen. Er gab den Deutschen Hoffnung, die schlimmsten Folgen von 1919 abzuwenden. Die Verträge von Locarno 1925 normalisierten die Beziehungen Deutschlands nach dem Westen; willkürliche Besetzungen deutschen Gebiets waren damit ausgeschlossen. Das Nobelkomitee zeichnete ihn mit dem Friedensnobelpreis (1926 zusammen mit Aristide Briand) aus.

Gustav Stresemann, der seit längerem erkrankt war, verstarb nach einem schweren Schlaganfall mit 51 Jahren am 3. Oktober 1929. Seinem Sarg folgten mehr als hunderttausend Menschen. Den Beschluss, die französische Rheinlandbesetzung binnen Jahresfrist zu beenden, erlebte er noch. So bleibt er der überragende Kopf der deutschen Außenpolitik zwischen den Kriegen. Auch die allzu kurze Zeit seiner Kanzlerschaft kann sich mit seinem Kampf gegen Extremismus und seinem Anteil an der Beendigung der Hyperinflation mehr als sehen lassen.

US-Senator William H. King würdigte ihn in einem Nachruf als einen der „bedeutendsten Männer der Neuzeit“. Stresemanns Tod sei ein Unglück nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt.4

Hubertus Prinz zu Löwenstein resümiert rückblickend: „Wenngleich es nicht statthaft ist, geschichtliche Abläufe auf Einzelgründe zurückzuführen, so hat doch Stresemanns Tod das Schicksal Deutschlands und der Welt tragisch beeinflusst. Zweifellos wäre er im Jahre 1932 zum Reichspräsidenten gewählt worden. Weder die Cliquen, die die Regierung Brüning erst schufen und dann stürzten, noch der Nationalsozialismus wäre unter Stresemann zur Macht gelangt. Noch einige Jahre, und die Wirtschaftskrise war überwunden. Eine Deutsche Republik europäischen Geistes, demokratisch und sozial im Aufbau und in der Gesetzgebung, hätte die moralische Autorität besessen, die abendländische Gemeinschaft zu einigen und ihr die Gesittung des Friedens wiederzugeben“5

Veröffentlichte Quellen:

Gustav Stresemann Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden.

Bd. 1: Vom Ruhrkrieg bis London. Berlin 1932

Bd.2: Locarno und Genf. Berlin. Berlin 1932

Bd. 3: Von Thoiry bis zum Ausklang. Berlin 1933

Gustav Stresemann: Reden und Schriften. Politik – Geschichte – Literatur 1897-1926, hrsg. von Hartmuth Becker, Berlin 2008

Eine einführende und zusammenfassende Darstellung:

Eberhard Kolb: Gustav Stresemann. München 2003

1Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Neunter Band 1926-1937, Stuttgart 2010, S. 264f. Eintragungen vom 3. und 4.10.1929.

2Präambel der Reichsverfassung von 1919: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben“. Die immer wieder bedrückende Verfassungswirklichkeit und das frühe Ende der Republik sollen m.E. nicht die weitreichenden guten Bestimmungen der Verfassung in bürgerlich-liberaler und sozialstaatlicher Hinsicht verdecken. Auch die weltweit geachteten, ja einflussreichen Leistungen abseits der unmittelbaren Politik in Bildung, Kultur und Wissenschaft verdienen es, gewürdigt zu werden. Davon zeugen u.a. die vielen Nobelpreisträger und die Zahl der Emigranten von Jenny Aloni bis Stefan Zweig, die nach 1933 vor Hitler fliehen mussten – und ihren Gastländern wertvolle Impulse gaben.

3Stresemanns Rede zu Deutschlands Eintritt in den Völkerbund vor der Völkerbundsversammlung in Genf, 10.9.1926. In: Becker, a.a.O., S. 413.

4Kolb, a.a.O., S. 8

5Hubertus Prinz zu Löwenstein: Deutsche Geschichte. München 1976, S. 5 

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