Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

© Stefan Winckler

Nation?

 

Ich bin kein Nationaler. Denn ich denke wenig in kollektiven Kategorien, sondern sehe eher das Individuum, das sich von anderen unterscheidet und seine Eigenarten, insbesondere politische Werte hat. Hinzu kommt, dass der Begriff der Nation aus der Französischen Revolution und dem frühen 19. Jahrhundert stammt, also aus einem völlig anderen Zeitalter. Er war erst gegen das aristokratische ancien regime, dann gegen die einzelnen souveränen Staaten des Deutschen Bundes gerichtet. Schon deswegen steht er auf dem Prüfstand. Vor allem hat er destruktive Energien freigesetzt, Hass, Volkstumskämpfe. Da imponiert mir die rationale, „kalte“ Gleichgewichtspolitik Metternichs zur Sicherung des Friedens in Europa weit mehr als der gleichzeitige emotionale Überschwang mancher seiner Gegner, den man festmachen kann am Franzosenhass, dem kernigen „Überzeugt-sein“ und der – hier ist der Begriff angebracht – Deutschtümelei der damaligen Burschenschaften.

Gleichwohl kann niemand bestreiten, dass es Völker gibt. Das deutsche Volk, so lesen wir in der Präambel des GG, hat sich das Grundgesetz gegeben. Insofern ist das deutsche Volk schlicht und einfach Verfassungssubjekt. Dort, wo früher der Reichstag und heute der Deutsche Bundestag tagt und arbeitet, steht seit dem Ersten Weltkrieg über dem Portal: „Dem Deutschen Volke“.

Meine Einstellung zur Nation wird deutlich anhand meiner Haltung zur Teilung Deutschlands. Mehr als die Spaltung bedauerte ich vor 1989/90, dass den Bewohnern der DDR die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten vorenthalten wurden. Im Gegensatz zur Bundesrepublik war das kein Staat des Volkes, mit anderen Worten: die DDR war keine Republik. Ein Status der DDR gemäß demjenigen Österreichs oder Finnlands wäre dagegen nicht allzu sehr zu tadeln gewesen. Die Linie Adenauers, im Zweifel für die Freiheit zu wirken, war richtig. Ob es ein oder zwei deutsche Staaten gab, war mir also nicht wesentlich. Verfassungspatriotismus geht über Nationalpatriotismus. Auf die Qualität kam es an. Und die DDR hatte wenig Qualität, sie war ein Modell des Misserfolgs, wie Eckhard Jesse einmal schrieb.

Übrigens ist eine kulturelle Blütezeit eines Volkes unabhängig von der Existenz eines Nationalstaats. Polen im 19. Jahrhundert war geteilt zwischen Preußen, Russland und Österreich, und brachte zweifellos bedeutende Schriftsteller, Komponisten, Maler, Bildhauer und Bühnenkünstler hervor. Johannes Paul II. sprach sogar vom "Gipfel polnischer Kultur", jedenfalls in "gewissem Maße". Und war nicht das in viele souveräne Staaten aufgespaltene deutsche Sprachgebiet der Napoleon-Zeit und des Deutschen Bundes mit einer Fülle an literarischen und musikalischen Genies ausgestattet, mit Philosophen und Naturwissenschaftlern?

Zur Außenwirkung: Es freut mich, wenn andere Völker die Deutschen mit guten, wertvollen Charaktereigenschaften und Leistungen verbinden. Selbstverständlich sehe ich mich als Deutscher, erst recht, wenn ich in einem anderen Land nach meiner Nationalität, nach meiner Herkunft gefragt werde. Es käme mir unehrlich vor, mich etwa in Kalifornien oder im Fernen Osten lediglich als Europäer zu bezeichnen. In Deutschland oder Österreich fühle ich mich als Bayer, und in Bayern als Unterfranke mit Nähe zum Rhein-Main-Gebiet.

In West- und Mitteleuropa ist die Bedeutung des Nationalstaats stark zurückgegangen. Grenzen im alten Sinne gibt es glücklicherweise nicht mehr, vielmehr sind sie zu Verwaltungstrennlinien geworden. Es ist für mich ganz selbstverständlich, Freundschaften in anderen Ländern zu pflegen (und wenn es der Austausch per facebook und e-mail ist), beispielsweise im tschechischen Südmähren zu übernachten, dort ein Schloss zu besichtigen, dann ein paar Kilometer Richtung Wien nach Niederösterreich zu fahren, um dort Kaffee zu trinken und ein Museum zu betreten. Karl zu Schwarzenberg hat einmal gesagt, in einem Wirtshaus in Retz/Niederösterreich spricht „man“ nicht anders über die Europäische Union als in einem Wirtshaus zehn Kilometer nördlich, im mährischen Znojmo. Das ist sehr gut formuliert, noch dazu von einem, der es wissen muss. 

 

Patriotismus?

 

Die Identifikation mit dem eigenen Land und seiner weit über tausendjährigen Kultur ist grundsätzlich konstruktiv und hat nichts mit Verachtung anderer Länder oder gar Aggression gegen diese zu tun. Patriotismus ist die Pflege des geistigen, des kulturellen Erbes, das uns von den Vorfahren hinterlassen wurde. Dabei denke ich gerade auch an unsere Sprache. Michael Wolffsohn definiert Patriotismus darüber hinaus als „Einsatz der Bürger für ihr Gemeinwesen; für das Gemeinwesen, in dem sie leben, das sie entweder lebenswert gestalten oder erhalten wollen“. Wer will dem nicht zustimmen?

Für mich selbst bedeutet Patriotismus weniger die national motivierte Liebe zum gesamten Vaterland, denn Deutschland als Flächenland ist zweifellos heterogen. Keiner wird sich mit allen Teilen Deutschlands von Nordfriesland bis zum Bodensee gleichermaßen verbunden fühlen, wenn er seine Gefühle etwas genauer überprüft. Patriotismus ist für mich demnach die Entdeckung der und die Liebe zur eigenen Region, die auch wiederum jeder anders verortet. Renaissance-Rathäuser, fachwerkgesäumte Marktplätze, Barockbrunnen, unzählige Museen, Klöster, Schlösser, Burgen, Ruinen. Geschichte über viele Jahrhunderte. Aber auch die Natur bietet viel liebenswertes. Da gibt es genug kennenzulernen und an jüngere Menschen weiterzureichen. Daher bin ich auch ein ausgesprochener Anhänger des „Tages des offenen Denkmals“. Nicht zufällig habe ich meine Ausflüge in die nähere Umgebung auf zahlreichen Fotos "verewigt" und teilweise auf dieser website präsentiert. Patriotismus dient dem Zusammenhalt der Gesellschaft, die ja eher weniger als mehr national gestaltet wird, und daher eines Gemeinschaftsgefühls bedarf, wenn sie sich nicht atomisieren und zerfallen will. Patriotisch ist auch die erklärte, selbst in Krisenzeiten nicht zu erschütternde Verbundenheit mit dem funktionierenden demokratisch verfassten Rechtsstaat Bundesrepublik und dessen Leistungen: Dolf Sternberger schrieb zum 23.5.1979 in diesem Sinne vom "Verfassungspatriotismus". 

 

Die Tabuisierung und Verteufelung von "Nation" und "Patriotismus" ist schädlich,  ihre Vergötzung und ihr Missbrauch ohnehin. Es war ja gerade der Patriotismus in Verbindung mit christlichen Werten, der den Deutschen Widerstand gegen Hitler angetrieben hat. Vgl. dazu: http://www.historiker-stefan-winckler.de/zitate/

 

Regionalismus?

 

Es ist keine Frage, dass die Menschen sich ihrer eigenen Region in den letzten Jahren stärker bewusst geworden sind, und den zentralisierten Nationalstaat kritischer, distanzierter betrachtet haben. Man denke nur an Oberitalien mit der Partei Lega Nord, Schottland versus Großbritannien, die Regionalbewegungen in den unterschiedlichen Teilen Spaniens. Bleiben wir einen Moment beim Beispiel Italien: die Dialekte in den einzelnen Regionen zwischen Fraul-Julisch Venetien im Norden und Sizilien im Süden sind doch sehr unterschiedlich, das Regionalbewusstsein ist groß. Um so mehr erscheint der zentralisierte Einheitsstaat, der Italien von 1860 bis 1948 und v.a. im Faschismus war, reichlich pervers. Die Devolution - Stärkung oder überhaupt erst Schaffung regionaler Kompetenzen zuungunsten der zentralen Institiutionen - hat grundsätzlich meine Sympathie. Ungekehrt ließe sich sagen: Ist es nicht unglaublich, war es nicht pervers, dass Schottland in den Jahren 1707 bis 1999 über kein eigenes Regionalparlament verfügte (England gab im Act of Union 1707 dem entsprechenden schottischen Wunsch nicht statt)

Der Begriff der Subsidiarität kommt dabei zum Tragen, d.h. so viel wie möglich möge auf der unteren Verwaltungsebene entschieden und geregelt werden, so viel wie nötig auf den oberen Ebenen wie Nationalstaat und Europäische Union. Erfreulicherweise wird das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 des Vertrages über die Europäische Union ausdrücklich betont, auch wenn die Verfassungswirklichkeit eine andere ist.

Ich befürworte entschieden die Zusammenarbeit  mit benachbarten Regionen der angrenzenden Staaten, etwa Niederbayern und Jihočeský kraj/Südböhmen, zumal es auf dieser Ebene sehr, sehr viel zu regeln gibt, von Verkehrsprojekten über die grenzüberschreitende Kriminalitätsbekämpfung bis zum vielfältigen kulturellen Austausch. Gemeinsame Landesausstellungen bieten sich angesichts der vielfach verflochtenen und Vergangenheit an: Kaiser Karl IV./Karol IV. Luxemburský  ist Gegenstand der bayerisch-tschechischen Landesausstellung 2016 zuerst in Prag und dann in Nürnberg. 

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